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Bad Bank
94 Prozent der befragten Experten erwarten laut der Umfrage von PricewaterhouseCoopers bis 2030 in der Energie-Industrie große Veränderungen, an die sie ihre Geschäftstätigkeit anpassen müssen. Bereits jetzt gefährden dezentrale Energiegewinnungsprojekte das klassische Geschäftsmodell der Energieanbieter. Einerseits müssen für diese Projekte kleine Netzwerke installiert werden, andererseits müssen beispielsweise in Deutschland leistungsfähige Transportkapazitäten von Norden nach Süden aufgebaut werden, um große, in Offshore Windparks produzierte, Energiemengen zu den Konsumenten zu führen. PricewaterhouseCoopers warnt trotz dieser Schwierigkeiten die großen Energieanbieter vor der Gefahr, den Trend zu alternativen Energien zu verpassen. Sie könnten sonst zum reinen Sicherungsanbieter degradiert werden. Nur wenige Befragte erwarten, dass große Kraftwerke und zentrale Lösungen die Nachfrage und Bedürfnisse der Zukunft lösen könnten. Die Beraterfirma empfiehlt den Branchenmitgliedern deshalb eine Strategie gegenüber diesen Herausforderungen zu entwickeln. Sie müssten ihre Chancen erkennen und nutzen, wenn sie weiterhin eine Rolle spielen wollten. Wirtschaftskrisen, wachsende Energieeffizienz und fallende Preise bei fossilen Energieträgern sind nicht nur für Kernkraftwerkprojekte, sondern auch für erneuerbare Energie ernsthafte Hürden. Laut dem vom Umweltprogramm der vereinten Nationen (UNEP) veröffentlichten Bericht »Global Trends in Renewable Energy Investment 2015« sind die weltweiten Investitionen in erneuerbare Energien zwar seit 2011 gesunken, doch 2014 gab es – trotz der gedämpften Wirtschaftlage eine markante Steigerung. In Zahlen: 2014 betrugen die Investitionen in erneuerbare Energien 270 Milliarden Dollar. Im Investitionsrückgang zwischen 2011 und 2013 drückt sich laut dem Bericht des UNEP die Sorge über die künftige politische Strategie einiger Länder wie die USA, Deutschland, Frankreich und Grossbritannien bezüglich der staatlichen Unterstützung beim Aufbau und Betrieb von Projekte für erneuerbare Energie aus. Nach der Überwindung der staatlichen Schuldenkrise in den südlichen Ländern Europas dürften nun die Investitionen in erneuerbare Energien wieder deutlich zunehmen. Einen Einfluss darauf dürfte auch die Einigung bei den Klimaverhandlungen von Paris haben. Die daraus resultierenden Verpflichtungen werden der Formulierung einer klaren Energiestrategie Impulse geben, zumal die benötige Hilfe pro installiertem Megawatt bei den neuen erneuerbaren Energien immer geringer oder bald unnötig wird. Der UNEP-Bericht prognostiziert deshalb mittelfristig eine deutliche Investitionszunahme in Wind- und Solarenergie. Bereits jetzt werden Projekte für hunderte von Millionen Euro in Lateinamerika und dem Mittleren Osten entwickelt – ganz ohne staatliche Subventionen.
Als sich die Zukunftsaussichten für den grössten deutschen Energiekonzern E.ON immer mehr verdüsterten, beschloss der Konzern im November 2014 einen radikalen Kurswechsel. Er will die Produktion atomarer und fossiler Energie und damit das traditionelle Geschäft auslagern. Skeptiker fragen sich nun, ob dieses ausgelagerte Sammelsurium traditioneller Energieprodukte, die sie despektierlich auch »bad bank« nennen, die finanzielle Kraft haben wird, den Verpflichtungen beispielsweise bei der Endlagerung radioaktiver Abfälle nachzukommen. E.ON selbst sieht seine Zukunft in der Produktion erneuerbarer Energien und dem Umbau der Stromnetze in »intelligente Netze«. Damit sollen Bedürfnisse von Kunden, die nicht mehr nur Stromkonsumenten, sondern auch Produzenten sein wollen, besser bedient werden. E.ON vollzieht damit jenen Strategiewechsel, den PricewaterhouseCoopers in seinem Bericht »Energy transformation – The impact on the power sector business model« ebenfalls vorschlägt. Denn wer eine zukunftstaugliche Energiestrategie entwickeln will, darf Kernenergie nicht einfach durch Strom aus Kohle- oder Gaskraftwerken ersetzen. Die Gefahr ist auch in der Schweiz gross, dass die kriselnden Energieproduzenten, wie Alpiq und Axpo versuchen werden, die Kosten für den Rückbau und die Endlagerung wenigstens teilweise über die öffentliche Hand abzuwickeln. Eine verzwickte Situation, weil die Kantonalen Finanzämter sich gerne jahrelang Sand in die Augen Streuen und Geld in die Hand geben liessen. Obwohl immer klar war, dass bei der Kernenergie die ganz grosse Rechnung erst am Schluss präsentiert wird. Sowohl in Deutschland aber auch in der Schweiz engagieren sich die Interessenvertreter der Energieindustrie. Einerseits, um wie in Deutschland den Staat zu Schadenausfall zu zwingen, andererseits um wie in der Schweiz eine Laufzeitverlängerung zu beschliessen. Was Deutschland betrifft, so ist dies – wenn genau gerechnet wird – eine absurde Klage um entgangene Defizite. Denn gewinnbringend ist die Atomenergie nicht mehr. Das Schweizer Parlament wagt mit der unbeschränkten Laufzeitverlängerung ein riskantes Spiel und wenn es je zu einem schweren Unfall wegen eines maroden Kraftwerks kommt, werden dies die einzelnen Parlamentarier mit ihrem eigenen Gewissen vereinbaren müssen.
Es wäre wünschenswert, sich auch auf politischer Ebene mit der Zukunft der Energieversorgung zu befassen. Der Klimawandel ist längerfristig eine grosse Bedrohung für die Menschheit. Der fünfte Zustandsbericht des International Panel on Climate Change (IPCC) von 2014 geht davon aus, dass sich die CO2-Emissionen aus dem Energiesektor bis 2050 verdoppeln könnten, wenn sich die bisherige Energiepolitik nicht ändert. Der Aufbau eines kohlenstoffarmen Energiesektors wird vom Weltklimarat als Schlüssel bei den technischen Maßnahmen gegen den Klimawandel bezeichnet. Die Energie aus erneuerbaren Quellen, aber auch aus der Kernspaltung müsse von 30 auf 80 Prozent steigen. Über die Kernenergie ist im Bericht des IPCC zu lesen, sie sei zwar eine treibhausgasarme Energie, aber es gäbe eine Reihe von Risiken: bei der Urangewinnung, dem Betrieb, finanziellen und regulativen Fragen, ungelösten Endlagerproblemen und der Verbreitung von Kernwaffen, sowie der öffentlichen Meinung. Wenn man die Entwicklung der Kernenergie in den letzten 15 Jahren betrachtet, aber auch die mit sechs Milliarden Euro jährlichen relativ geringen Investitionen seit dem Jahr 2000, so scheint es etwas überraschend, dass internationale Institutionen der Atomkraft eine wichtige Rolle im Kampf gegen den Klimawandel zutrauen.
Zum Weiterlesen:
Irene Aegerter, Physikerin, Schweiz: "Die Energiewende ist katastrophal."
Mycle Schneider, Energieberater, Paris, Frankreich: "Atomenergie ist nicht mehr konkurrenzfähig."