Viktor Pinigen, Landvermesser und Liquidator, Weissrussland

„Diese Stille. Es war wie in einem Vakuum“

Viktor Pinigin ist Landvermesser. Ende Mai 1986 wurde er als Liquidator in der 30 Kilometer – Sperrzone eingesetzt.

"Medaille für die Arbeitsverdienst der Liquidatoren" heisst es aur dem Orden, den sich die rund 800'000 für Aufräumarbeiten eingesetzten Männer und Frauen an die Brust heften dürfen. Im Inneren Kreis symbolisiert ein Blutstropfen ihre Heldenbereitsdchaft, die gestrichelten Linien stehen für die Alpha-, Beta- und Gammastrahlen, denen sie ausgesetzt waren.

„Es muss Ende Mai 1986, etwa einen Monat nach der Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl, gewesen sein, genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich wurde als Reservist der Armee aufgeboten und musste sofort ausrücken. Warum und wohin genau, würde ich noch erfahren. Zusammen mit fünf weiteren Männern ging es in einem menschenleeren Zug nach Gomel. Ob wir wohl in den Krieg ziehen, dachten wir uns. Dort empfing uns der Vorsitzende des Exekutivkomitees. Im Verwaltungsgebäude standen alle Türen offen, kaum ein Mensch war zu sehen. Es hiess, wir hätten uns in Narowlja einzufinden, einer Stadt nahe der ukrainischen Grenze. Dort nahmen wir in einem Gasthof Quartier, als einzige Gäste. Noch immer wussten wir nicht, was los war. Es waren nur 100 Meter zum Fluss Pripjat mit einem sehr schönen, sandigen Ufer. So badeten wir. Schliesslich wurden wir abgeholt und in ein menschenleeres Dorf gefahren. Es befand sich mitten in der 30 Kilometer - Sperrzone um den zerstörten Reaktor in Tschernobyl. Unser Auftrag lautete, in mehreren Dörfern Vermessungsarbeiten durchzuführen. Grosse, besonders verstrahlte Areale sollten asphaltiert werden. Doch das erfuhren wir erst viel später.
Ich weiss die Namen der Dörfer, in denen während einer Woche arbeiteten, bis heute auswendig: Belyj Bereg, Danilejewka, Lichownja, Werbowitschi, Gruschewka. Und nie werde ich diese Stille vergessen. Es war totenstill. Kein Vogelgezwitscher, keine summenden Bienen oder herumschwirrende Fliegen, nur einige herumstreunende Katzen und Hunde, die man später alle erschossen hat. Die Dörfer waren menschenleer, Türen und Fenster vernagelt, die Brunnen zugeschüttet. Und diese Stille. Wie in einem Vakuum. An einem Nachmittag hatte man uns vergessen. Wir wurden einfach nicht abgeholt. So gingen wir die 15 Kilometer zurück zu unserem Gasthaus zu Fuss, durch eine wunderschöne, menschenleere Landschaft. An der Grenze der Sperrzone sah ich Feuerwehrleute und Soldaten in Schutzanzügen und mit Schutzmasken, ein Polizist wusch jedes Auto, das aus der Zone fuhr. Wir arbeiteten in unserer zivilen Kleidung, niemanden schien das zu kümmern. Auch ein Dosimeter, das eigentlich jeder, der in der Sperrzone arbeitete, auf sich tragen sollte, hatten wir nicht. Ich weiss bis heute nicht, wie viel Strahlung ich abbekommen habe. Sechs Jahre später bin ich, nach einigem Insistieren, als Liquidator anerkannt worden und habe einen schönen Orden erhalten. Er zeigt einen Blutstropfen und Alpha-, Beta- und Gammastrahlen. Eine Entschädigung oder eine Rente, wie in anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion, habe ich deshalb nie erhalten. In Weissrussland wurden wir zwar auch als Helden gefeiert, aber dabei blieb es dann. Heute sind wir nicht einmal mehr das. Stattdessen gelten wir nun als Opfer. Ein Entschädigungsanspruch besteht deshalb allerdings nach wie vor nicht. Doch ich bin auch kein Opfer. Im Gegenteil. Ich bin stolz, meinen Beitrag zur Bewältigung dieser Katastrophe geleistet zu haben. Und ich lebe noch. Drei meiner damaligen Kameraden sind gestorben.



zum Weiterlesen:

Das Leiden der Liquidatoren

 

 

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