Corinne Nicollet, ehemalige Mitarbeiterin im Kernkraftwerk Flamanville

"Rauchen Sie?"

Corinne Nicollet, 52, Mittelschullehrerin, ehemalige Gewerkschafterin und Mitarbeiterin im Kernkraftwerk Flamanville.

„Wenn ich aus meinem Schlafzimmerfenster schaue, sehe ich eine schöne Küstenlinie mit Dünen, Heidesträuchern und Grasbüscheln. Am Horizont aber steht ein orangefarbener Kran. Er markiert die Baustelle, wo der neue EPR-Reaktor von Flamanville gebaut wird. Wenn ich mich aus dem Fenster lehne und in die andere Richtung schaue, blicke ich auf Fabrikschornsteine, die zur Wiederaufbereitungsanlage La Hague gehören. Ich wohne in Vauville und dieser kleine, verschlafene Ort liegt im Schnittpunkt dieser Atomanlagen. Sans nucléaire on meurt, Madame, sagen mir meine Studenten, wenn ich die Kernenergie kritisiere. Ich sage dann, ich dachte, man könne wegen der Kernenergie sterben, nicht ohne. Sie argumentieren wirtschaftlich. Das ist klar. Warum ich als Gegnerin der Kernenergie ausgerechnet hier wohne? Für mich ist La Manche, dieser nordwestliche Zipfel der Normandie, meine Heimat. Und glauben Sie mir, ich habe Angst. Ich habe Angst, weil ich selber vor bald 30 Jahren beim Kernkraftwerk Flamanville Direktionssekretärin war mit grossartigen Möbeln und noch grossartigerem Blick aufs Meer. Die Anlage war damals noch jung, aber ich habe praktisch täglich Rapporte abgetippt, in denen von Lecks, kleineren Brüchen und sonstigen materiellen Unzulänglichkeiten und menschlichen Fehlern die Rede war. Es war nie schlimm, aber es weckte ein Gefühl der Unsicherheit. Denn im Gegensatz zur Kommunikation dieser Firmen, die angeblich immer alles im Griff haben, sieht die Wirklichkeit anders aus. Wir hatten vor einigen Wochen in Cherbourg eine öffentliche Versammlung über die Zukunft der Kernenergie. Anwesend waren Atomkritiker, aber auch Vertreter der Atomindustrie. Ich kannte sie nicht. Aber als es um die Sicherheit ging, stand ich auf, beschrieb meine Erfahrung und bat um Stellungnahme, des Vertreters aus Flamanville. Ich wollte wissen, ob das damals nur Kinderkrankheiten waren. Wie sich später herausstellte, antwortete mir der Chef persönlich. Und was sagte er? Mit keinem Wort ging er Frage ein, sondern versprach mir eine DVD zu schicken. Es war – wie sich später herausstellte – ein reiner Propagandafilm. Beim Apéritif fragte er mich später noch: Rauchen Sie? Leute der Atomwirtschaft werfen den Gegnern immer vor, sie seien unfähig, zu diskutieren. Ich mache die gegenteilige Erfahrung. Bevor ich in Flamanville arbeitete, war ich auch bei der Wiederaufbereitungsanlage in La Hague angestellt. Man braucht dort Leute, die Fremdsprachen beherrschten, ich hatte Englischkenntnisse. Nach wenigen Monaten erneuerte man den Vertrag nicht. Ich sei ein Sicherheitsrisiko. Der Grund dafür war, dass ich mich auf eine Kandidatenliste der ökologischen Partei setzen liess. Das genügte, um ein Sicherheitsrisiko zu sein. Heute bin ich in Vauville Mitglied des Gemeinderates. Als es darum ging, im Katastrophenfall die Notfallzone von 10 auf 80 Kilometer, also auf die ganze Halbinsel Contintin zu erweitern, wehrten sich der Bürgermeister und andere Mitglieder im Gemeinderat dagegen. Es spielt aber für uns keine Rolle, weil wir sowieso innerhalb der 10 Kilometer sind. Was ich aus ihrem Verhalten, ihrer Gegnerschaft herauslese: Die Gefahr wird klein geredet. 80 Kilometer seien übertrieben. So schlimm könne ein Unfall nicht sein. In Fukushima würden die Leute ja zurückkehren. So und ähnlich argumentieren die Menschen hier. Auch sie haben Angst. Aber vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Diese Angst zu haben ist legitim. Frankreich steckt seit Jahren in der Krise. Doch die Region Cherbourg ist reich. Dank der Atomkraft. Andererseits hat man es die Region seit Jahrzehnten versäumt, etwas anderes zu entwickeln: Wiederaufbereitung von nuklearem Material, die Produktion von Atomenergie und die Produktion von atomgetriebenen U-Booten und anderen Rüstungsmaterialien - in der Nordregion der Basse Normandie ist die Abhängigkeit der Nuklearwirtschaft total. Früher war die Gewerkschaft CGT ebenfalls ein starker Unterstützer der Kernenergie. Kein Wunder: Die Arbeiter waren alle bei Ihr organisiert. Doch die Zeiten ändern sich. Von den früheren 4‘000 Mitarbeitern im Arsenal, also im Rüstungsbetrieb, sind noch 2‘400 hier. 800 von der Armee, 800 von privaten Teilhabern und 800 Teilzeitbeschäftigte, die hier unter der Woche Geld verdienen und übers Wochenende manchmal bis nach Portugal fahren. Das kann gefährlich sein. In Cherbourg werden U-Boote gebaut, die einen kleinen Atomreaktor an Bord haben. Aber es gibt Sprachprobleme, und manchmal fehlt die Professionalität, wurde mir gesagt. Sprachprobleme gibt es auch auf der Baustelle für den neuen Reaktor in Flamanville. Es ist nicht die Schuld der Fremdarbeiter, die ein Auskommen suchen. Aber kann man Leuten trauen, die bei einem so gefährlichen Geschäft wie der Nutzung der Atomenergie bei den Löhnen sparen und billige Lösungen suchen? Schlimm würde es aber erst, wenn die bankrotten Staatsunternehmen AREVA und EDF privatisieren müssten. Die CGT hat auch in der Atomindustrie an Einfluss verloren. Es gibt in der Gewerkschaft nun zwei Lager. Die Arbeiter vor Ort unterstützen selbstverständlich immer noch die Nuklearindustrie, aber die Strategen der Gewerkschaft denken um. Das sehe ich an internen Diskussionen. Natürlich würde das Ende der Atomwirtschaft auch Chancen für Neues öffnen. Beispielsweise hier in der Normandie mit einem Strömungskraftwerk im Ärmelkanal – auch wenn man technisch noch nicht so weit ist. Ich glaube sowieso, dass die beste Energie die ist, die man nicht konsumiert. Veränderungen beginnen im Kleinen. Bei einem selber, in der Nachbarschaft und im Dorf. Manchmal denke ich, den Jugendlichen fehlt der Mumm. Sie sind in dieser Atomenergie-Gegend aufgewachsen, haben den ersten Widerstand nicht miterlebt und sind sich einen grosszügigen Energieverbrauch und ein gutes Leben gewohnt. Oft sind sie unpolitisch. Deshalb sagen sie ja auch: Sans nucleaire, on meurt, madame.“



zum Weiterlesen:

Flamanville: Schwieriger Neubau








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