Nach Jahren der Unentschlossenheit haben die USA die grösste legislative Massnahme in ihrer Geschichte ergriffen, um gegen den Klimawandel vorzugehen. Während die Demokraten feiern und das Gesetz als historisch bezeichnen, schütteln die Republikaner ihre Köpfe. Das Gesetz treibe die Inflation nur weiter an, anstatt diese zu verhindern. Zudem würden dadurch unzählige Arbeitsplätze zerstört. Biden geht mit dem Gesetz gleich mehrere seiner Wahlversprechen an, auch wenn auf dem steinigen Weg einige Kompromisse eingegangen werden mussten. Der Inflation Reduction Act geht tatsächlich weit über die Bekämpfung der Inflation hinaus, die allein im Juli 8.5 Prozent betrug. Rund 433 Milliarden US-Dollar sollen im nächsten Jahrzehnt investiert werden. 369 Milliarden werden für die Energiesicherheit und den Klimawandel eingesetzt, 64 Milliarden für die Verlängerung des Affordable Care Acts, auch bekannt als Obama Care, bis 2025.
Da die Einnahmen durch das Gesetz die Ausgaben in den nächsten zehn Jahren übersteigen sollen, werde der Überschuss von schätzungsweise 300 Milliarden das Staatsdefizit verringern, so die Hoffnungen der Demokraten. Das solle wiederum die Inflation reduzieren. Laut den Republikanern seien alle diese Einnahmen jedoch nicht garantiert. Man wisse nicht, wie die Unternehmen reagieren werden, und ob sie Schlupflöcher finden, um den geplanten Abgaben zu entgehen. Auch die Verhandlungen der Medicare in vier Jahren haben keinen vorbestimmten Ausgang. Es könne demnach zur Erhöhung des Staatsdefizits und der Inflation kommen. Ob die 300 Milliarden Dollar über ein Jahrzehnt verteilt, eine bedeutende Auswirkung auf die Inflation haben könnten, bleibt fraglich. So gibt die Bundesregierung allein dieses Jahr etwa 2 Billionen US-Dollar mehr aus, als sie einnehme.
Build Back Better Act war zum Scheitern verurteilt
Die Ansicht, der Inflation Reduction Act trage seinen Namen eher aus Marketing-Gründen, als dass er wirklich gegen Inflation vorgeht, ist weit verbreitet. Das hat seine Gründe. Das Gesetz ist nämlich eine abgespeckte Version des Build Back Better Acts, der vor mehr als einem Jahr noch über 3 Billionen Dollar umfasste und ein Sanierungsprogramm für die US-amerikanische Infrastruktur vorsah. Die Wirtschaft sollte durch die Förderung grüner Energien vorangetrieben werden. Das Gesetz stiess jedoch auf grossen Widerstand – ausgerechnet in der eigenen Partei.
Joe Manchin ist ein konservativ-demokratischer Senator aus West Virginia, dessen Familie das Kohleunternehmen Enersystems Inc. besitzt. Monatelang verhandelten Präsident Joe Biden, Vizepräsidentin Kamala Harris und der Fraktionsführer der Demokraten, Chuck Schumer, mit Manchin, um den Build Back Better Act durchzusetzen. Der Senat war allein auf Manchins Stimme angewiesen. Das verlieh ihm enorme Verhandlungsmacht. Der Geldbetrag, der in das Gesetz fliessen sollte, wurde kontinuierlich kleiner. Nichtsdestotrotz endeten die Verhandlungen im Untergang des Build Back Better Acts. «Die Inflation, über die ich mir Sorgen mache, ist nicht vorübergehend, sie ist real», begründete der 74-Jährige.
Aus dem gescheiterten Gesetz wurde der Inflation Reduction Act, den Manchin schlussendlich unterstützte. Dies, weil das Gesetz die Inflation senke und die Staatsverschuldung von 29'000 Milliarden Dollar abbaue. Die Biden-Administration musste für Manchins Stimme einige Kompromisse eingehen. So wird das Genehmigungsverfahren für die oft blockierte Mountain Valley Pipeline vereinfacht. Diese liegt in Virginia, dem Heimatstaat des Swing State Senators. Das Gericht, das das Pipeline-Projekt aufgrund rechtswidriger Genehmigungen von Seiten lokaler Behörden verzögert und somit die Kosten von 3.3 Milliarden Dollar beinahe verdoppelt hatte, verliert seine Zuständigkeit. Die 487 Kilometer lange Pipeline soll in Zukunft Erdgas von Nordwest-Virginia nach Süd-Virginia transportieren, Arbeitsplätze schaffen und den schleichenden Untergang der lokalen Kohleindustrie langsam ausgleichen. Klimaschützer zeigen sich unglücklich über diesen Deal, da sie hofften, mithilfe des Inflation Reduction Acts von fossiler Energie wegzukommen, nicht sie zu fördern.
Manchin half Öl- und Gasunternehmen aus
Eine weitere Bestimmung verpflichtet die Bundesregierung, mehrere Versteigerungen von Öl- und Gaspachtgebieten auf Bundesland und im Golf von Mexiko durchzuführen, obwohl Bidens Regierung in Vergangenheit das bundesstaatliche Pachtprogramm stoppen wollte. Zudem sollen diese Gebiete verpachtet werden, bevor Flächen für Wind- und Solarparks versteigert werden können. Da die Industrie ihre Ressourcen aus den Gebieten abzieht und weniger Kapital als je zuvor in diesen Gebieten zur Verfügung steht, werden nicht zwingend neue Bohrungen durchgeführt. Das liegt daran, dass die zuständigen Unternehmen ihr Kapital verlagert haben und in anderen Staaten Fracking betreiben. Manchins Forderungen machen Energie kurzfristig weder günstiger noch verfügbarer. Sie könnte den Ausbau erneuerbarer Energien über längere Zeit sogar ausbremsen.
Das neue Gesetz lässt die Öl- und Gasunternehmen aufatmen. Eine vorherige Version des neuen Gesetzes hätte für sie die Kosten, um die Zahl der stillgelegten Bohrlöcher zu verringern, steigen lassen. Wären sie Konkurs gegangen, hätten sie riesige Summen für die Sanierung der Unternehmen zahlen müssen. Nun müssen sie wesentlich kleinere Beträge zahlen, wenn sie auf öffentlichem Land bohren wollen. Die Bundesregierung ist teilweise dazu verpflichtet, die Kosten zu übernehmen. Das verdrängt auch zukünftige Investitionen in die Windenergie und macht die Gebiete aufgrund der vielen Bohrlöcher für Windkraftanlagen unbrauchbar. Viele Umweltorganisationen stören sich an diesem Deal. So auch das Center for Biological Diversity, das von einem «Klima-Selbstmordpakt» spricht. Ein Bericht des Datenanalyseunternehmens Rhodium Group zeigt auf, dass trotz aller Kompromisse viel mehr Emissionen durch das Gesetz eingespart als erzeugt werden. Das liegt unter anderem an den Steuergutschriften für grüne Energie, die die Pachtverträge für Öl- und Gaskonzerne noch unattraktiver werden lassen als sie ohnehin schon waren.
Sinema sichert Spendern aus der Wall Street tiefe Steuersätze
Manchin war jedoch nicht der einzige konservative Demokrat aus einem Swing State, der sich Bidens Plänen in den Weg stellte. Nach ihm nutzte Kyrsten Sinema, Senatorin aus Arizona, die Situation zu ihren Gunsten aus. Es war auch ihre Stimme, die zuletzt nötig war, um das Stimmverhältnis im Senat auf 50:50 zu kippen. Wie auch Manchin, setzte sie sich für die Interessen wichtiger Spender der eigenen Kampagne ein. Seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2017 erhielt sie 2.2 Millionen Dollar aus der Wall Street. Aus diesem Grund setzte sie sich gegen Steuererhöhungen ein. Beteiligungsgesellschaften sind nun von der Unternehmenssteuer von 15 Prozent befreit. Die Demokraten wollten Steuerschlupflöcher für Reiche stopfen und somit ihr Paket finanzieren. Dazu gehört auch die Carried-Interest-Regelung, die es Hedge-Fund-Managern und Private-Equity-Investoren ermöglicht, ihren Lohn als Kapitalgewinn mit 23.8 Prozent zu versteuern anstatt als gewöhnlicher Ertrag mit 37 Prozent – obwohl sie kein Eigenkapital riskieren. Bereits Barack Obama und Donald Trump hatten beim Versuch, diese Regelung ausser Kraft zu setzen, keinen Erfolg. Auch Manchin war für dessen Abschaffung. Es war die einzige Steuererhöhung im Gesetz, die der Senator unterstützt hätte. Sinema sicherte Arizona in den Gesprächen zusätzliche vier Milliarden Dollar, um die Dürre entlang des Colorado Rivers zu bekämpfen.
Nachdem die Verhandlungen ihr Ende gefunden hatten, stand es im Senat 50:50 – niemand aus dem republikanischen Lager hatte sich für den Inflation Reduction Act ausgesprochen. Das Gesetz setzte sich im Repräsentantenhaus, wo die Demokraten eine Mehrheit geniessen, durch, bevor Manchin und Sinema ihr opportunistisches Veto nutzten. Die Demokraten nutzten eine spezielle Prozedur namens Reconciliation, die Filibuster verhindert. So entgingen sie der im Senat üblichen Mehrheit von 60:40. Die Reconciliation besagt, dass haushaltsbezogene Gesetzesentwürfe mit einer einfachen Mehrheit durchgesetzt werden können. Vizepräsidentin Kamala Harris durfte als Vorsitzende des Senats bei Gleichstand den Schlussentscheid fällen. Die Mehrheit wurde nach 18 Monaten voller Verhandlungen erreicht.
Ein Triumph mit Seitenblick auf die Zwischenwahlen
Für Joe Biden ist die Durchsetzung des Inflation Reduction Acts ein grosser Sieg. Der US-Präsident wurde laut Umfragen immer unbeliebter, weil er sich nicht an seine Wahlversprechen hielt. Nun geht er – auch wenn nicht so stark wie erhofft – gleich mehrere davon an. Steuern für Reiche werden erhöht, Obamacare wird erweitert und die USA erhalten einen Plan gegen den Klimawandel. Dies könnte den Demokraten auch bei den Zwischenwahlen, die jedes zweite Jahr stattfinden, aushelfen. Die Tradition besagt nämlich, dass die vorherrschende Partei die Mehrheit im Kongress verliert. Mit diesem Sieg könnte Biden diesem Schicksal entgehen. Bei den Zwischenwahlen werden alle Sitze des Repräsentantenhauses und 35 Sitze im Senat neu gewählt.
Das Wichtigste ist jedoch die Durchsetzung einer Klimastrategie. Besonders nachdem die Hoffnungen auf eine solche vor zwei Monaten verloren gingen. Noch im Juni beschloss die republikanische Mehrheit des Supreme Courts im Fall West Virginia vs. EPA, dass die Umweltschutzbehörde den Kohlenstoffausstoss von Kohlekraftwerken nicht regulieren darf. Dies hätte die Industrie dazu gezwungen auf erneuerbare Energien umzusteigen. Der Gerichtsfall war ein weiteres Beispiel für die Spaltung der Vereinigten Staaten.
Mit dem Inflation Reduction Act möchten die USA ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um 40 Prozent im Vergleich zu 2005 senken. Die Ziele sind nicht so ambitioniert wie diejenigen der EU, die die Emissionen bis 2030 um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 senken möchte. Zudem setzen die Vereinigten Staaten hauptsächlich auf durch Steuererhöhungen finanzierte Subventionen. Diese Massnahme gilt in der EU als ineffizient. Dass die USA als zweitgrösster Emittent von Treibhausgasen weltweit – nach China – endlich einen Plan haben, ist bereits ein Erfolg.
Subventionen sollen den Klimawandel stoppen
Das Gesetzespaket von rund 369 Milliarden Dollar umfasst grosszügige Steuergutschriften für saubere Energien wie Solar-, Wind- und geothermische Energie, um erneuerbare Energien zu fördern. Auch Investitionen in Batteriespeicher, Biogas, Kernenergie, Wasserstoff aus sauberen Energiequellen und Biokraftstoffe sollen dadurch attraktiver werden. Versorgungsunternehmen und Staaten erhalten 30 Milliarden Dollar, um den Wandel zu erneuerbarer Energie voranzutreiben. Subventionen von 27 Milliarden Dollar für die Tech-Industrie sollen die Entwicklung erneuerbarer Technologien begünstigen. Die Landespost erhält drei Milliarden Dollar, um ihre Fahrzeugflotte zu elektrifizieren. Hinzu kommt ein Programm, das die Freisetzung von Methan bei Öl- und Gasbohrungen verhindern soll. 20 Milliarden gehen in die Landwirtschaft für klimafreundlichere Arbeitsmethoden. Weitere fünf Milliarden kommen der Waldbrandprävention zugunsten.
Die US-Bürgerinnen und -Bürger selbst profitieren von Steuergutschriften beim Kauf von Elektrofahrzeugen. Diese betragen 7’500 Dollar für Neuwagen und 4’000 Dollar für Gebrauchtwagen. Dies gilt jedoch nur für Elektrofahrzeuge, die in Nordamerika hergestellt wurden. Eine bestimmte Auswahl teurer E-Fahrzeuge ist von der Begünstigung ausgeschlossen. Zudem müssen die Batteriemineralien in den Autos aus den USA stammen. 9 Milliarden Dollar fliessen zusätzlich an einkommensschwache Haushalte. Ihre Haushaltsgeräte sollen elektrifiziert und die Wohnungen energieeffizienter gemacht werden. 60 Milliarden sind für Gemeinden reserviert, die unter der Verschmutzung durch fossile Brennstoffe leiden.