Frankreich in der atomaren Zwangsjacke

Betriebliche Probleme in der Wiederaufbereitunganlage in La Hague gefährden den atomaren Brennstoffkreislauf in Frankreich (Bild: Orano) Betriebliche Probleme in der Wiederaufbereitunganlage in La Hague gefährden den atomaren Brennstoffkreislauf in Frankreich (Bild: Orano)

 

Der Präsident der französischen Atomaufsichtbehörde ASN, Bernard Doroszcuk, verlangt, dass Sicherheitsfragen «ab sofort» in allen energiepolitischen Entscheidungen berücksichtigt werden. Das zeigt vor dem Hintergrund einer Debatte um vom französischen Präsidenten Emanuel Macron diktierte Strompreisrabatte und einer AKW-Pannenserie das grosse Dilemma der französischen Energiepolitik: Atomstrom ist praktisch unabdingbar geworden.

 

 

56 Atomreaktoren betreibt Frankreich. Sie liefern rund zwei Drittel des Stromes. Die Flotte ist mit einem Durchschnittsalter von knapp 37 Jahren in die Jahre gekommen. Das letzte Kraftwerk wurde 1999 eröffnet, die Einweihung des jüngsten in Flamanville ist seit Jahren überfällig. Noch vor einem Jahr schien das Ende besiegelt: «Von nun haben wir die Bestätigung, dass der Weg in Richtung einer zu hundert Prozent erneuerbaren Elektrizität technisch machbar ist. Das ist ein Kopernikus-Moment für Frankreich». So hatte Barbara Pompili, die Ministerin für den ökologischen Wandel, einen gemeinsam von der Internationalen Energie-Agentur und dem französischen Stromnetzwerkbetreiber herausgegeben Bericht kommentiert. Die Arbeitsgruppe war zum Schluss gekommen, «dass es keine unüberwindbaren Hürden gibt für eine Entwicklung hin zu einer Elektrizität, die zu einem sehr hohen Anteil aus erneuerbaren Energien gespiesen wird». 85 – 90 Prozent bis 2050 und 100 Prozent bis 2060 seien möglich.

Doch Pompilii hatte die Rechnung ohne Präsident Emanuel Macron gemacht. Der hatte schon Ende 2020 verkündet, dass die Grösse Frankreichs sich durch den nuklearen Sektor definiere, sowohl wirtschaftlich als auch militärisch. «Ohne Atomstrom gibt es keine Atomwaffen, und ohne Atomwaffen keinen Atomstrom.» Deutlicher hätte er das Primat der Politik nicht ausdrücken können. Damals liess Macron noch einen Türspalt offen, um sein Wahlversprechen, den Anteil der Atomenergie deutlich zu reduzieren, zu erfüllen. Im vergangenen Oktober sprach er dann Klartext. Es sei an der Zeit, die Atomkraft neu zu erfinden, verkündete Macron und versprach eine Milliarde Euro Staatsgelder für die Entwicklung von «Small Modular Reactors», redimensionierte AKW, die es als Serienprodukt geben soll. Tatsächlich ist es allerhöchste Zeit für eine Modernisierung, wenn nicht zu spät, so denn am Atomstrom festgehalten werden soll. Zwar hat die französische Atomaufsichtsbehörde grünes Licht für eine Verlängerung der Betriebsbewilligung von 40 auf 50 Jahre gegeben, allerdings nur, wenn bei den ältesten AKW aus den 1970er-Jahren zusätzliche Sicherheitsmassnahmen getroffen würden. Ab Mitte dieses Jahrzehnts erreichen laufend Reaktoren die neu mögliche maximale Betriebsdauer von 50 Jahren, richtig eng wird es im nächsten Jahrzehnt, wenn nach und nach der Grossteil der französischen AKW abgeschaltet werden müsste.

Die Betreiberin aller französischen AKW, die sich zu 84 Prozent im Staatsbesitz befindende Eléctricité de France EDF, sieht sich derweil mit einer Pannenserie konfrontiert, die zur Abschaltung von rund einen Fünftel der Reaktoren zwang. EDF rechnet für 2002 mit Produktionsausfällen von bis zu 60 Terrawattstunden. Dazu kommt eine Verfügung des Präsidenten, der um seine Wiederwahl im April kämpft. Danach muss EDF statt 100 deren 120 Terrawattstunden, rund ein Drittel der Jahresproduktion, zu verbilligten Preisen an andere Stromanbieter liefern, weiters werden die Stromtarife für ein Jahr um vier Prozent gesenkt, um Industrie und Konsumenten angesichts explodierender Energiepreise und Inflation zu entlasten. Das dürfte, so die Rating-Agentur S & P in einem Bericht, ein Loch von vier bis acht Milliarden Euro in die Kasse von EDF reissen, was prompt zu einer Abstufung des Ratings auf BBB+ führte. Damit, so S & P, könnte EDF mit liquiden Mitteln von zehn bis 13 Milliarden Euro gerade so noch in der Lage sein, seine finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen. Der Aktienkurs gab um ein Viertel nach. EDF-Direktor Jean-Bernard Levy zeigte sich in einem der Nachrichtenagentur Reuters zugespielten internen Memo «wirklich schockiert». Er habe noch versucht, die Regierung zu überzeugen, einen differenzierten Kurs einzuschlagen. So hätten kleine und mittlere Unternehmen und die am meisten verwundbaren Industrien gezielt entlastet werden können. Nun würde die Unternehmensbilanz «stark belastet». Aus der Regierung kamen rasch beschwichtigende Signale. «Wir werden diese grosse Firma im Staatesbesitz, den Stolz der Französinnen und Franzosen, unterstützen», liess Finanzminister Bruno LeMaire verlauten, «und wir werden weiter in EDF investieren, weil wir neue Atomreaktoren bauen wollen, die aus strategischer Sicht absolut entscheidend sind für EDF.»

Das mochte sowohl Finanzmarktteilnehmer als auch Gewerkschaften beruhigen. Doch soweit ist es noch lange nicht. Denn weit stärker belasten könnten EDF und die gesamte französische Atompolitik die jüngsten Aussagen des Präsidenten der Atomaufsichtsbehörde ASN, Bernard Doroszczuk. Dieser hatte in seiner Neujahrsbotschaft zwischen den Zeilen die Dringlichkeit einer Neuausrichtung betont. Das vergangene Jahr habe vor allem die «industriellen Schwachstellen der Kernkraftwerke und des Brennstoffkreislauf» aufgezeigt. Es gebe kaum Spielräume, und es mangle an Anpassungsfähigkeit. Schon seit Jahren betone die ASN, den Kraftwerkpark so zu dimensionieren, dass man Spielräume habe, wenn «die Sicherheit der Anlagen und die Notwendigkeit der Stromversorgung» zu Zielkonflikten führe. Besonders anfällig sei zudem der Brennstoffkreislauf. Die Verzögerung beim Bau eines zentralen Lagerbeckens für abgebrannte Brennelemente und betriebliche Probleme in der Wiederaufbereitungsanlage in La Hague schwächten den ganzen Kreislauf und damit auch den Betrieb der Atomreaktoren. «ASN verlangt, dass diese Sicherheitsprobleme ab sofort bei allen energiepolitischen Entscheidungen berücksichtigt werden, und zwar auf derselben Ebene wie das Ziel einer erneuerbaren Stromproduktion im Jahr 2050». So müsste die Entscheidung, bis 2035 weitere 12 Reaktoren endgültig abzuschalten, angesichts des wachsenden Strombedarfs überdacht werden, allerdings nur dann, wenn es gelinge, deren Sicherheit aufrechtzuerhalten. EDF sei zudem aufgerufen, binnen von fünf Jahren nachzuweisen, dass die Laufzeit der ältesten Reaktoren auf 60 Jahre verlängert werden könne. «Auf keinen Fall darf es zu Entscheidungen kommen, die die Stromnachfrage höher gewichten als die Sicherheit.» Zudem sei «die gesamte Branche» sowohl für die Endlagerung als auch den Rückbau von AKW «zu mobilisieren». Das betreffe auch die Ausbildung. 4'000 Ingenieurinnen und Ingenieure würden benötigt – pro Jahr.

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