Vom Leben im Ungleichgewicht erzählt der 1982 erschienene Film «Koyaanisqatsi» von Godfrey Reggio. Er stellt in Zeitraffer- und Zeitlupeaufnahmen die städtische Welt des Menschen jener gegenüber, die die Natur geschaffen hat: Die unfassbare Entfremdung wird fassbar. Im Abspann findet sich eine Prophezeiung der Hopi-Indianer, von deren Sprache sich der Regisseur auch den Titel auslieh: «Wenn wir wertvolle Dinge aus dem Boden graben, laden wir das Unglück ein.» Im vergangenen Dezember veröffentlichten der israelische Wissenschaftler Ron Milo vom Weizman-Institut in der Nähe von Tel Aviv eine Meta-Studie, in der er mit seinem Team eine Fülle von Forschungsarbeiten zu Veränderungen der globalen Biomasse – die Trockenmasse ohne Wasser - und der vom Menschen verursachten anthropogenen Masse verglich, bei der es sich im Wesentlichen um Stein, Asphalt und Schotter handelt. Danach hat der Mensch (ungefähr) im Jahr 2020 mehr Masse auf die Waage gebracht als die gesamte globale Biomasse: 1100 Milliarden Tonnen. Man mag einwenden, dass das im Wesentlichen ja nur Steine seien, die bearbeitet und verschoben werden. Doch damit einher geht eine Verdichtung der Böden, die Zersiedelung von Landschaften, der Verlust von Lebensräumen. So wurden zwischen 1985 und 2009 alleine in der Schweiz Böden von der Fläche des Bodensees überbaut. Dieser versiegelte Boden erholt sich selbst nach einem Rückbau erst nach Jahrhunderten. Die Berechnungen der Israelis zeigen nun das ungeheure Ausmass dieser Versteinerung der natürlichen Welt. Vorauszuschicken ist, dass der Mensch, seit er sich vor rund 12'000 Jahren sesshaft machte, durch Landwirtschaft und Waldrodung die natürliche Biomasse, namentlich Agrar- und Wildpflanzen, der Mensch spielt kaum eine Rolle, bereits halbiert hat. Die Biomasse ist seit 1900 in etwa konstant bei 1,1 Terratonnen geblieben. Damals machte die anthropogene Masse erst drei Prozent der Biomasse aus. Dieser Anteil erhöhte sich bis in die 1950er-Jahren nur leicht. Seither ist sie explodiert und hat sich im Rhythmus von zwei Jahrzehnten verdoppelt. Jährlich kommen rund 30 Gigatonnen dazu. «Wenn der Tag der Reinigung naht, werden sich Spinnweben am Himmel spannen, und es wird Asche vom Himmel regnen, die das Land verbrennt und den Ozean zum Kochen bringt», heisst es in der Prophezeiung der Hopi.
Das Bewusstsein, dass der Landschafts- und Bodenverschleiss und die damit verbundene Zurückdrängung natürlicher Lebensräume, die wiederum zu einem Artensterben führt, alarmierende Ausmasse angenommen hat, ist auf der Bühne der Regierungen noch nicht allzu weit gediehen. Erst auf das Jahr 2011 geht die Gründung der «High Ambition Coalition for Nature and People» zurück. Sie strebt einen «globalen Deal für Mensch und Natur» an, der den «sich beschleunigenden Verlust von Arten stoppt» und Ökosysteme erhält, die «die Quelle unserer ökonomischen Sicherheit» seien. Der Koalition haben sich inzwischen 50 Regierungen angeschlossen, unter ihnen Costa Rica und Frankreich, die sich zusammen mit Grossbritannien den Vorsitz teilen, die Schweiz, Portugal, die Niederlande, die Europäische Kommission, Kolumbien, Kanada, die Vereinigten Arabischen Emirate, Japan und der Kongo. Diese Staaten haben am «One Planet Summit» in Paris angekündigt, sich dafür einzusetzen, dass bis 2030 je 30 Prozent der globalen Landmasse und Ozeane geschützt werden sollen. Das ist, nur schon, wenn man die lange Liste der Abwesenden, angeführt von den USA, China, Brasilien und Indien, betrachtet, ein überaus ambitioniertes Ziel, um es vorsichtig auszudrücken. Aktuell sind es im jüngsten «Global Biodiversity Outlook» der Vereinten Nationen 17 Prozent des Landes und 10 Prozente der Ozeane, die unter Schutz stehen. Die Menschheit stehe am Scheideweg, heisst es in dem Bericht, der ein ernüchterndes Fazit der menschlichen Bemühungen zum Erhalt der Artenvielfalt auf der Welt zieht. 2010 hatte sich die Weltgemeinschaft in den Aichi-Zielen darauf verständigt, binnen zehn Jahren signifikante Fortschritte für den weltweiten Schutz der Biodiversität zu erreichen. Diese sollten mit Biodiversitäts-Berichten der UNO laufend kommentiert werden. Danach ist das für den Ausbau von Schutzgebieten vorgegebene Ziel 2020 wohl quantitativ erreicht, qualitativ aber verfehlt worden. Es mangelt insbesondere an der Vernetzung der Schutzgebiete. Noch viel schlimmer ist es um den Artenverlust bestellt, der ungebremst weiter gegangen ist. So hat die Zahl der Wildtiere in nur fünf Jahrzehnten um mehr als zwei Drittel abgenommen, eine Million Wildtiere sind vom Aussterben bedroht. Noch nicht einmal das vergleichsweise bescheidene Ziel, das Bewusstsein für die Bedeutung der Artenvielfalt zu schärfen, ist erreicht worden. Und noch nicht einmal ein Viertel der nationalen Ziele stimmen mit jenen der Aichi-Ziele, zu denen sich die Länder ja verpflichtet haben, überein. Eine Arbeitsgemeinschaft führender Wissenschaftler verlangte schon 2018 einen «Global Deal for Nature» mit nochmals wesentlich ambitionierteren Zielen, als es die High Ambition Coalition formuliert. Danach müssten nicht nur 30 Prozent der Land- und Meerflächen unter Schutz gestellt, sondern weitere zwanzig Prozent als Zonen deklariert werden, die beitragen, das Klima zu stabilisieren. Bedenkt man, dass bereits 66 Prozent der Ozeane und 75 Prozent der Landflächen stark vom Menschen verändert worden sind, lässt sich die Dimension der Aufgabe ermessen, der sich die Welt zu stellen hat. Die Verpflichtung der High Ambition Coalition, endlich mehr zu tun zum Erhalt der Biodiversität ist immerhin ein Anfang. Am Biodiversitäts-Gipfel in China im Mai, so darf gehofft werden, folgt die Fortsetzung.