Heerscharen von Kleinen Füchsen sonnen sich an der dunklen Holzwand und schaffen mit ihren leuchtend orangen Schmetterlingsflügeln einen hübschen Kontrast. Der Hahn, so schön, dass man ihn malen möchte, stolziert durch den Garten. Eine hungrige Katze schaut neugierig ums Eck. Die letzte Frische des Morgens zerrinnt. Es wird ein heisser Frühsommertag. Es ist still. Nur aus der Ferne ist das Rufen eines Kuckucks zu hören. Eine kleine, gedrungene Frau tritt aus dem Blockhaus. Die leuchtenden Fensterrahmen in hellem Blau locken das Licht durch die schmalen Schlitze ins Innere. »Holt Wasser. Ich will kochen«, ruft die Alte. Sie will nur Babuschka, Grossmutter, genannt werden. Der Ziehbrunnen steht im Schatten eines riesigen Baumes, der wie ein Wachtturm über das Grundstück ragt. Er fördert ein fauliges, von Sand durchsetztes Wasser zutage.
Rund um diese Idylle ist nichts mehr, wie es einmal war. Das Dorf Zamoshnya liegt in der 30-Kilometer-Sperrzone um den zerstörten Block 4 des AKW Tschernobyl. Die Bevölkerung wurde einige Wochen nach der Katastrophe, am 26. April 1986, evakuiert. Auch Babuschka musste weg. Doch sie kam nach zwei Jahren zurück und blieb. Die Behörden hatten versichert, im Dorf sei die Strahlung ungefährlich. Das ist nicht ungewöhnlich. Die Radionuklide aus dem Reaktor verteilten sich nach dem Zufallsprinzip, Wind und Wetter spielten dabei die Hauptrolle. So blieben einige Dörfer weitgehend verschont und konnten nach einer Dekontaminierung wieder besiedelt werden. Doch nur die wenigsten kamen zurück. Was hätten sie hier auch tun sollen? Es gab nichts mehr, was sie hätte ins Brot setzen können: Das kontaminierte Vieh war geschlachtet und verscharrt, Wiesen und Äcker verbuschten, Schulen, Behörden und Betriebe waren längst geschlossen. Babuschka kehrte mit einigen anderen Dorfbewohnern zurück ins Leben ihrer Vorfahren: einfache Bauern, die sich weitgehend selbst ernährten. Vor dem Super-GAU hatte sie auf der Kolchose gearbeitet, die das ganz Dorf mit Arbeit versorgte. Heute ist sie zusammen mit ihrer gelähmten Schwester die Letzte dieser kleinen Schar. Sie sei gesund, es gehe ihr bestens, versichert sie gleich. Und der Fisch, den sie für ihre Gäste zubereiten werde, stamme nicht aus der Zone: »Freunde haben ihn mir gebracht.«
Die 82-Jährige lebt seit Jahrzehnten in dem Haus. Innen ist es dank eines Lehmverputzes angenehm kühl. Es fliesst Strom, und auch das Mobiltelefon von Babuschka hat Empfang. Wann genau sie eingezogen ist, weiss sie nicht mehr. Zu viel muss passiert sein in ihrem Leben, das in einer Zeit begann, als auf Stalins Geheiss die Ukraine, die Kornkammer seines sowjetischen Reiches, in den Jahren 1932 und 1933 ausgeplündert wurde, um den Bauern den Willen zu brechen und eine Zwangskollektivierung durchzusetzen. Selbst das Saatgut wurde beschlagnahmt. Eine katastrophale Hungersnot war die Folge. Millionen Menschen kamen um. Babuschka überlebte. Auch den Zweiten Weltkrieg überstand sie, die deutschen Besatzer und deren völkermörderische Blutspur, gerade in der Region um die nahe Bezirkshauptstadt Tschernobyl, wo fast die Hälfte der Bevölkerung jüdische Wurzeln hatte. Ihre Mutter habe sie und ihre Schwester im Stich gelassen, als sie gerade einigermassen selbständig geworden sei. Das muss noch im Krieg gewesen sein. Seither lebe sie in diesem Haus. Es kamen gute Jahre: Die Sowjetunion der Nach-Stalin-Zeit. Die Arbeit auf der Kolchose des Dorfes, das Haus, der Garten, die Liebe, der ein schon als Kleinkind verstorbener Sohn entsprang.
Der draussen im Garten mit einem Küchenmesser entschuppte und filetierte Fisch schmeckt köstlich, die selbst gezogenen Kartoffeln sind mit frischem Dill veredelt. Dazu reicht sie in Essig eingelegte Pilze, »garantiert nicht verstrahlt«. Ob sie es nicht besser weiss? Wer hier Pilze sammelt und verspeist, gefährdet seine Gesundheit. Schon auf nur leicht radioaktiv kontaminierten Böden bauen die Pilze die Radionuklide in ihre Fruchtkörper ein und werden zu erheblichen Strahlungsquellen. Auch die in Zucker gekochten Erdbeeren sind frisch aus dem schönen, sehr gepflegten Garten, den Babuschka nach dem Essen stolz zeigt. Dass sie sich ihren Weg zwischen zwei eingestürzten Häusern bahnen muss, nimmt sie kaum mehr wahr. Die zerbröckelnde Bushaltestelle gegenüber ihrem Haus, wo seit bald drei Jahrzehnten kein Bus mehr gehalten hat, ist längst Teil ihres Alltags. Natürlich darf der selbst gebrannte Wodka nicht fehlen, den es nach Landesbrauch in einem Zug zu trinken gilt.
Die Natur hat freies Spiel
Ein Spaziergang durch die Stille des Dorfes. Mächtige Bäume säumen das Teersträsschen. Die längst ausgeräumten Häuser verschwinden in einem sich ausbreitenden, jungen Wald. Manche sind schon halb verfallen, manche haben die Schönheit ihres schlichten Baustils bewahrt. Warten sie darauf, dass die wiederkehren, die sie einst mit Leben erfüllt haben? Ein Kriegerdenkmal im Schatten einer wild wuchernden Baumgruppe erinnert an die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges. Die Plastikblumen, die es schmücken, verwelken nie. Das Schulhaus aus Stein. Die Treppen zum Eingang sind mit Unkraut überwachsen. Die Tür ziert ein Rundfenster, das noch Reste einstiger Bemalung zeigt. Ein Teil der Decken ist eingestürzt. Draussen auf dem mit hohem Gras überwachsenen Schulhof machen es sich junge Birken bequem. Nur wenige Meter dahinter beginnt der Sumpf. Die Natur hat freies Spiel. Es bleibt still.
Die weiten Felder, auf denen einst das Vieh graste, sind zu Steppen geworden, auf denen sich Buschwerk und junge Bäume ausbreiten. Auf den sauren Waldböden gedeihen Waldkiefern mit ihren mächtigen, mediterranen Kronen. Daneben kommen auch grosse Laubmischwälder vor. Ein Baummeer säumt die Strassen, die wegen des Brandschutzes nach wie vor unterhalten werden. Denn ein Waldbrand könnte die im Erdreich allmählich absinkenden Radionuklide wieder freisetzen. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass das Herbstlaub nur teilweise zersetzt wird. Es mangelt an Mikroorganismen, Insekten und Würmern. Die Gründe für den Rückgang sind nicht erforscht – der Schluss, dass die Strahlung auch diesen Lebewesen zusetzt, liegt allerdings nahe. Auch die Waldkiefern bleiben nicht verschont. Manche sind zu bizarren Gebilden deformiert. Ein Stamm verzweigt sich auf Kopfhöhe zu einem hydraartigen Gebilde, die Rinde leuchtet hell- statt dunkelbraun; ein anderer zeichnet in drei Metern Höhe einen Kreis in die Luft, um dann schräg nach oben weiterzuwachsen und schliesslich zu verenden. Ob sich hier im Boden einer der gefährlichsten Stoffe überhaupt findet: Plutonium-239? Schon winzigste Mengen töten einen Menschen – vorausgesetzt, das giftige, strahlende Schwermetall gelangt etwa über die Atemluft in seinen Kör- per. Die Strahlung selbst durchdringt nicht einmal die menschliche Haut. Doch es wird noch schlimmer kommen. Im Atomkraftwerk Tschernobyl wurde, in weit grösserer Menge, auch Plutonium-241 produziert. Es ist – vergleichsweise – harmlos und mit einer Halbwertszeit von 14,4 Jahren baut es sich im Vergleich zu Plutonium-239 (Halbwertszeit 24 000 Jahre) viel rascher ab. Doch das Zerfallsprodukt, Americium-241, ist potenziell noch gefährlicher als Plutonium-239, denn Americium-241 schickt sich gerade erst an, seine Wirkung zu entfalten. Als Gammastrahler durchdringt es sogar Betonwände. Ende des 21. Jahrhunderts wird es noch über Jahrhunderte voll wirksam sein. Die Halbwertszeit beträgt 432 Jahre. Dann wird es vielleicht Sperrzonen in der Sperrzone geben, deren Betreten unmittelbar lebensgefährlich sein kann. Nicht nur dort. Auf illustrierten Karten der Behörden, die die Verseuchung mit Plutonium-239 anzeigen, sind weit grössere Gebiete betroffen, unter ihnen auch die Millionenstadt Kiew. Am Horizont ein Hügelgrab: der neue, 100 Meter hohe, tunnelförmige Sarkophag. Er soll 2017 die zunehmend löchrig werdende, im Eiltempo und unter katastrophalen Bedingungen errichtete Hülle ersetzen, die die strahlende Ruine des zerstörten Atomkraftwerkes abschirmt.
Das Betreten der Sperrzone ist bewilligungspflichtig. Die Überwachung ist so lückenhaft und die Bewacher sind so korrupt, dass Wilderer und Plünderer tun und lassen können, was sie wollen. Die wenigen, wahrscheinlich durchziehenden Wölfe, die es in den verstrahlten Wäldern tatsächlich gab, sind längst abgeschossen worden, weil sie angeblich eine Bedrohung für die wenigen Bewohner waren. Auch Babuschka hat ihr Heulen gehört und sich gefürchtet – eine in einem Meer von Radioaktivität absurde Angst vor einem Raubtier, das selbst niemanden mehr fürchtet als den Menschen. Alles, was sich irgendwie noch zu Geld machen liess, namentlich Metalle aller Art, ist längst aus der Sperrzone abtransportiert worden. Nur die Katastrophentouristen, die sich nicht gut genug auskennen, werden gehörig zur Kasse gebeten, um dann von schlecht geschulten Führern den Sarkophagen und die Geisterstadt Prypjat gezeigt zu bekommen. Sie erinnert den Besucher unweigerlich an die Kulissen von Endzeit-Filmen, die die Welt nach dem atomaren Krieg zeigen. Die Gebäude dürfen sie nicht betreten, die Strassen nicht verlassen. Man muss schon so unverfroren sein wie der Besitzer eines Kiewer Nachtclubs, der einen verstrahlten, nach dem Einsatz vergrabenen Helikopter ausbuddeln und abtransportieren lassen wollte, um damit sein Lokal zu schmücken, bis die Behörden endlich reagierten. Die gesamten Gerätschaften waren damals nach ihrem Einsatz am verstrahlten Reaktor vergraben worden. Doch nicht nur aus der Sperrzone, die knapp die Grösse des Kantons Tessins erreicht, hat sich der Mensch weitgehend zurückgezogen. Auch in den umliegenden, stark von der Landwirtschaft geprägten Gebieten kam die Arbeit ums tägliche Brot praktisch zum Erliegen. Wer konnte, zog weg. Wer blieb, musste sich in einer kargen Existenz einrichten.
Die Stille Tschernobyls
In Pureshiv in der Sperrzone tischt der 77-jährige Ivan Ivanovich im Garten seine Delikatessen auf: selbst gebackenes Brot, selbst gebrannten Wodka und selbst geräucherten Schweinespeck. Zusammen mit seiner gleichaltrigen Frau Maria ist er 1988 zurückgekehrt. Es hiess, das Gebiet sei dekontaminiert. Rund 100 der ehemals 500 Einwohner taten es ihnen nach. Die meisten bereuten es. Es gab keine Perspektiven für ein gutes Leben mehr. Die Kolchose war aufgegeben, Arbeit gab es keine. Maria und Ivan Ivanovich blieben. »Draussen, das war ein Leben im Provisorium. Wir hatten dort keine Zukunft. Hier im Dorf bin ich aufgewachsen, hier haben wir unsere Kinder grossgezogen. Und hier werde ich sterben«, sagt der ehemalige Mechaniker. Seine Frau sitzt stumm daneben. Sie führt über den Hof zum Stall, wo sie vom Hausschwein freudig begrüsst wird. Eine Katze gesellt sich dazu, sie mag nicht mehr von ihrer Seite weichen. Reden mag sie nicht. So bleiben die so beliebten Trinksprüche aus. Der Wodka wird zum Seelentröster. Es wird still. Auch die Vögel schweigen. Es ist die Stille Tschernobyls.
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