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Atombombenopfer als Referenz für Grenzwerte

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Die heute geltenden Grenzwerte im Strahlenschutz basieren auf Langzeitstudien an den Opfern der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki. Sie definieren nicht mehr als das als tolerabel erachtete Restrisiko.

Eigentlich war die Sache schon lange klar: Wer es wirklich ernst meint mit dem Strahlenschutz, darf keinen Menschen einer noch so geringen Dosis aussetzen – der Organismus hat mit der natürlichen Strahlung schon genug zu tun. Doch das ist reines Wunschdenken. Auch das Auto kam schließlich vor der Verkehrssicherheit, und die jährlich Zehntausenden von Verkehrstoten werden hingenommen im Wissen, dass es einen jederzeit selbst erwischen könnte – auch wenn Sicherheitsgurt und Airbag uns glauben machen wollen, dem sei nicht so. Die Vorteile einer selbstbestimmten Mobilität und der Rausch der Geschwindigkeit lassen uns dieses Risiko in Kauf nehmen. Als in den 1960er- und 1970er-Jahren die Atomreaktoren in der entwickelten Welt dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs wie Pilze aus dem Boden zu schießen begannen, waren die Risiken und Gefahren der Atomenergie wohlbekannt. Die Erkenntnis, wonach es keine unschädliche Strahlenschwelle gibt, sondern prinzipiell ein Strahlenteilchen ausreicht, um eine Mutation auszulösen, die zu Krebs führen kann, gilt heute als Grundlage des Strahlenschutzes. Doch wenn es um die Bestimmung von Grenzwerten geht, scheint diese Theorie nicht mehr zu gelten. Mit der Begründung, es sei statistisch nicht belegbar, dass es bei sogenannt »niedrigen Strahlendosen« tatsächlich zu mehr Krebsfällen kommt, wird aus einer gesicherten Erkenntnis unvermittelt ein Fragezeichen. Und es werden auf Basis der Unmöglichkeit eines Nachweises als sicher geltende Schwellendosen definiert, die – ähnlich wie beim Auto – eigentlich nur einen Toleranzwert darstellen. Die Datenbasis für diese Grenzwerte liefern die seit 1950 laufenden Langzeitbeobachtungen an den Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Die Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP), einem 1928 gegründeten Spezialistengremium, gelten als Referenz für die Gesetzgeber in aller Welt. Daraus ist eine seltsame Abhängigkeit entstanden. Die ICRP organisiert sich selbst, Mitglieder werden nicht von verschiedenen Staaten oder Interessengruppen entsandt. Vor allem kritische Geister sind in der ICRP kaum zu finden. Die ICRP hat ihre Empfehlungen zum Strahlenschutz laufend revidiert, zuletzt im Jahre 2007. Noch bis in die frühen 1950er-Jahre war man davon ausgegangen, dass es eine Toleranzdosis, also eine Schwelle zwischen schädlich und unschädlich gibt. So ließen die 1951 er- lassenen Grenzwerte für das Personal atomarer Anlagen eine wöchentliche Strahlungsbelastung zu, die etwa dem Zehnfachen der heute geltenden Jahresgrenzwerte entspricht. Als erste Studien an Überlebenden der Atombombenabwürfe eine Zunahme an Leukämiefällen zeigen und auch Atomforscher selbst höhere Krebsraten haben, ändert die ICRP ihren Kurs. Aus der Erkenntnis heraus, dass es unmöglich sei, »das Vorliegen oder Fehlen einer Schwelle […] nachzuweisen, hat sich die Kommission in ihren Empfehlungen dafür ausgesprochen, dass keine Mühe gescheut werden sollte, um Expositionen durch alle Arten ionisierender Strahlung auf das niedrigste mögliche Maß zu senken«, heißt es 1955, im Jahr der »Atoms-for-Peace«-Konferenz in Genf. Tatsächlich empfiehlt die ICRP 1956 eine Senkung des Jahresgrenzwertes für Beschäftigte auf 50 Millisievert – ein Wert, der in den USA bis heute gilt, in den meisten anderen Staaten, den späteren Empfehlungen der ICRP folgend, sind es 20 Millisievert. Erstmals werden auch Grenzwerte für die Bevölkerung vorgeschlagen: 5 Millisievert, das Fünffache der heutigen Empfehlung. Die 1955 noch vergleichsweise scharfe Formulierung wird in den folgenden Jahrzehnten abgeschwächt: so niedrig wie praktikabel« (1959), »so niedrig wie ohne Weiteres erreichbar« (1966) und »so niedrig wie es vernünftigerweise unter Berücksichtigung wirtschaftlicher und sozialer Faktoren erreichbar ist« (1973). Nicht ignorieren ließen sich neue Ergebnisse der Lebenszeitstudien an den Atombomben-Überlebenden, die schließlich 1980 (Bevölkerung) und 1991 (Beschäftigte) zu den bis heute geltenden Grenzwerten führten. Dabei geht es nicht um die Frage, was hohe und sehr hohe Strahlendosen beim Menschen bewirken: Niemand bestreitet, dass sie sehr gesundheitsschädlich bis tödlich sind, im Extremfall binnen weniger Stunden. Es geht vielmehr um niedrige Strahlendosen, wie sie etwa nach den Super- GAU’s in Tschernobyl und Fukushima gemessen wurden. Die ICRP rechnet dabei die vorliegenden Daten der Atombomben-Überlebenden, die teils sehr hohen Dosen ausgesetzt waren, auf niedrigere Dosen herunter, um das Ergebnis dann zu halbieren. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass die Langzeitstudien erst 1948 begannen, drei Jahre nach dem Atombombenabwürfen, also nur mit jenen Überlebenden, die die Strahlenxposition bereits drei Jahre überlebt hatten. Unberücksichtigt bleibt auch, dass der einmalige Strahlenschock mit den sehr hohen Dosen nach einer Atombombenexplosion nicht zwingend dieselben Folgen im Körper zeitigt, wie wenn der Körper über lange Zeiträume einer weit niedrigeren Strahlendosis ausgesetzt. Die ICRP geht von der wissenschaftlich umstrittenen Annahme aus, dass niedrigere Dosen eine geringere gesundheitliche Wirkung zeitigen. Einige der neueren Studien legen den Schluss nahe, dass die Folgen dieser Niedrigstrahlung möglicherweise weit schlimmer sind als bislang angenommen. Andere kommen wiederum zum gegenteiligen Ergebnis: Dort ist gar die Rede von einer die Gesundheit fördernden Wirkung.
Die Grenzwerte müssen letztlich durch einen entsprechenden gesellschaftlichen Nutzen gerechtfertigt sein. Dieser seit »Atoms for Peace« gepriesene Nutzen in Form von elektrischer Energie muss nach dieser Denkweise die zu erwartenden, wenn nach offizieller Lesart auch statistisch nicht nachweisbaren gesundheitlichen Schäden mehr als aufwiegen. Die heute geltenden Grenzwerte spiegeln deshalb das politisch Machbare und nicht das für die Gesundheit des Menschen und aller Lebewesen Wünschbare.

 

Zum Weiterlesen:

Ludwig E. Feinendegen, Strahlenmediziner, sagt, Niedrigstrahlung stimuliere die körpereigene Abwehr,

Wolfgang Weiss, Mitglied des Wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung, sagt, jede Strahlung könne Krebs auslösen.