Radioaktiver Müll – Deutsche Ärzteschaft uneins über Freisetzung

geschrieben von 

Die Freigabe strahlenden Materials aus AKW-Rückbauten ist umstritten. Unsere mehrteilige Serie „Frei messen – ja oder nein?“ stellt in den nächsten Wochen die wissenschaftlichen Sichtweisen vor, erörtert den geltenden Richtwert und die Fragen des Rückbaus.

Die anthrazitfarbene Abfallschlacke sieht aus wie normales Geröll. 2000 Tonnen dieses so genannten schwach radioaktiven Materials lagern seit Dezember 2017 auf der Kreismülldeponie an der Grenze der Kreise Lörrach und Waldshut. Keine 700 Meter Luftlinie entfernt liegt die Ortsgrenze von Wehr. Die verantwortliche Behörde, das Regierungspräsidium Freiburg, sieht das gelassen. Sie hat die Abfallschlacke des Verhüttungsunternehmens H.C. Stark „freigemessen“. D.h. die ionisierende Strahlung der Schlacke liegt unter dem in der Strahlenschutzverordnung deklarierten Richtwert von 10 Mikrosievert/Jahr und gilt als rechtlich unbedenklich. Unter der deutschen Ärzteschaft herrscht seit Jahresbeginn ein Dissens angesichts der gesundheitlichen Risiken.

Gesundheitsrisiko verantwortbar

Laut Beschluss der Landesärztekammern und des Dt. Ärztetages vom vergangenen Jahr ist die Freigabe von radioaktivem Material auch unter dem Grenzwert von unter Zehn-Mikrosievert pro Jahr gesundheitlich bedenklich. Es gäbe keine Schwellenwerte für ionisierende Strahlung auch bei sehr kleinen Dosen, so stimmte die Ärzteschaft beim jüngsten Symposium der Landesärztekammer Ba-Wü im Februar 2018 überein. Dr. Robin Maitra, Abgeordneter des Dt. Ärztetages, wies darauf hin, dass Strahlung atomaren Restmülls zwar ein geringes, aber zusätzliches Risiko für die Bevölkerung bedeute.  „Es gibt keine ungefährliche Strahlung“, sagte der Basler Onkologe Claudio Knüsli im Interview mit unserem Magazin. Sein Vergleich neuester, internationaler Studien zur Niedrigstrahlung belegt dies. Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann vom Institut für Community Medicine an der Universität Greifswald wies ebenfalls auf die internationale Studien der letzten zehn Jahre hin, die das Krebsrisiko bei geringer Strahlenbelastung belegten. Diese Haltung entbehre wissenschaftlicher Grundlagen kritisierten hingegen Fachverbände der Radiologen und Nuklearmedizinern und die deutsche Bundesärztekammer. Für die freigemessenen Werten im Bereich von 10 Mikrosievert liegen keine Vergleichsstudien vor. Die natürliche vorkommende Strahlenbelastung in unserer Umwelt liegt zurzeit bei rund 2000 Mikrosievert. Die Bundesärztekammer hält die Gefahren für vernachlässigbar und positionierte sich bereits im Januar gegen den Ärztetagsbeschluss des vergangenen Jahres. Die konventionelle Deponierung sei „ aus medizinischer Sicht verantwortbar“.

Ein "strahlendes" Politikum

Die deutsche Bundesärztekammer rückt damit vom Entschluss des Deutschen Ärztetages ab. Vorangegangen war ein Expertengespräch, zu dem Baden-Württembergs Umweltminister Franz Untersteller im November vergangenen Jahres unter anderem Vertreter von Medizin und Strahlenschutzkommission geladen hatte. Darunter auch Frank-Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, wie auch Facharzt für Radiologie. Aus wissenschaftlicher Sicht sei die Resolution des Ärztetages für den Vorstand der Bundesärztekammer nicht haltbar, bestätigte Ulrich Clever, Präsident der Landesärztekammer gegenüber der Ludwigsburger Kreiszeitung im Februar. Clever hatte bereits vor einem Jahr erklärt, er halte die Freimessung von AKW-Bauschutt für gesundheitlich verantwortbar. Er hatte seinerzeit bereits dem Beschluss des baden-württembergischen Ärztetages widersprochen. Als Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer unterstrich er, beim aktuellen Beschluss handele es sich um eine wissenschaftliche, keine politische Stellungnahme. 

Bauschutt auf Deponien 

Einfluss auf die Politik hat die wissenschaftliche Haltung durchaus. Zum Beispiel im Landkreis Ludwigsburg: Der Bauschutt aus dem Rückbau des AKW Neckarwestheim I wird auch auf den kreiseigenen Deponien in Schwieberdingen und Horrheim landen – gegen den Widerstand von Bürgerinitiativen und Kommunalpolitikern vor Ort. Die Bürger wehren sich angesichts gesundheitlicher Risiken. Es herrscht viel Unklarheit bis Verwirrung in Sachen Freigabe und Richtwerte. (Nachtrag durch Leserkritik, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Textes lag folgende Information nicht vor.)  Laut Editorial des Dt. Ärzteblatts vom Frühjahr diesen Jahres hat Clever, Präsident der baden-württembergischen Landesärztekammer einen Sinneswandel durchgemacht. Es spricht sich nun dafür aus, das Moratorium zur Freigabe solle vom baden-württembergischen Umweltministerium noch einmal aufgegriffen werden. Andere Wege des Umgangs mit Atommüll sollten gesucht werden. Die Landesärztekammer sehe sich künftig in der Pflicht dies einzufordern. 

 

Im zweiten Teil unserer Serie erfahren Sie mehr über den Richtwert und die Freigabe von AKW-Abfällen und welche Kontrollen möglich sind.

 

Links: 

Umweltfairändern zum Ärztetagsbeschluss gegen die Freisetzung

Ludwigsburger Kreiszeitung über den Rückbau von Neckarwestheim 

Die Badische Zeitung über die Deponierung von radioaktiver Schlacke

Ärzteblatt Baden-Württemberg 3/2018, Editorial: "Es gibt keine unschädliche ionisierende Strahlung"

 

 

 

 

Mensch + Energie

Vor dem Hintergrund der aktuellen „Energiewende“-Debatten möchten wir einen kritischen Diskussionsbeitrag leisten für all jene, die mehr wissen wollen zum Thema Energie. Und wir möchten einen Beitrag leisten, die tiefen ideologischen Gräben zu überwinden, die Befürworter und Gegner trennen. Denn die Wahrheit wird bei diesem Thema sehr schnell relativ bzw. relativiert, man bewegt sich auf einem Feld, in dem sich Experten, Meinungsmacherinnern, Ideologen, Betroffene, Opfer, Lobbyisten, Politikerinnen und Weltenretter tummeln. Sie alle sollen zu Wort kommen, sie sollen von ihrer Wahrheit erzählen, der Wahrheit des Strahlenopfers ebenso wie jener des Kraftwerkbetreibers, des Befürworters und der Gegnerin.

Radium Girls

  • Radium Girls: Eine Videocollage der the Designerin Rose Todaro www.rosetodaro.com

Linear-No-Treshold-Model (LNT)

  • Das Linear-No-Threshold-Modell

    Aufgrund der im Labor bestätigten Erkenntnis, dass es grundsätzlich keine noch so niedrige Strahlendosis gibt, die als unschädlich bezeichnet werden kann, geht man davon aus, dass es, mit null beginnend, einen linearen Zusammenhang zwischen Strahlendosis und Krebsrisiko gibt: Je höher die Dosis, desto höher das Risiko. Die heute geltenden Grenzwerte fußen auf dem LNT-Modell.

Alpha-, Beta- und Gammastrahlung

  • Alpha-, Beta- und Gammastrahlung

    Alphastrahlung
    Alphastrahlung ist eine ionisierende Strahlung. Die Reichweite beträgt in der Luft nur zehn Zentimeter, schon ein Blatt Papier reicht als Abschirmung. Gelangen Radionuklide , die Alphastrahlung emittieren (d. h. in die Luft ablassen), etwa durch Nahrung oder die Atemwege in den Körper, sind sie ungleich gefährlicher. Typische Alphastrahler sind Uran und Thorium sowie deren Zerfallsprodukte Radium und Radon. Ein Beispiel ist Radium-226 .

    Betastrahlung
    Betastrahlung ist eine Teilchen-Strahlung mittlerer Intensität. Die Reichweite beträgt je nach Radionuklid in der Luft bis zu acht Metern, zur Abschirmung genügen in der Regel einige Millimeter Aluminiumblech oder Beton. Typische Betastrahler sind Iod-131 und Strontium-90, die beide bei atomaren Unfällen freigesetzt werden. Betastrahlung kann die Haut durchdringen. Im Körper reichert sich Iod-131 in der Schilddrüse an, Strontium-90 wird in die Knochen eingebaut. Beides kann zu schweren Krebserkrankungen führen.

    Gammastrahlung
    Gammastrahlung ist eine dem sichtbaren oder ultravioletten Licht vergleichbare, aber wesentlich energiereichere elektromagnetische Strahlung. Sie entsteht etwa nach einem Alpha- oder Betazerfall eines Teilchens, wenn noch ein Überschuss an Energie vorhanden ist. Die Reichweite von Gammastrahlung beträgt in der Luft mehrere hundert Meter. Sie durchdringt auch den menschlichen Körper. Zur Abschirmung ist dicker Beton oder Wasser nötig.

Aus mensch-und-atom.org wird mensch-und-energie.org

 

header neumenschundatom2 

 

 

Eine Initiative des 

Logo neu2

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.