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«Die Mäuse werden sich durchsetzen.»

geschrieben von  Urs Fitze (Text), Werner Stuber (Bilder)

Japans Bevölkerung mag mehrheitlich an den Urnen jene Kräfte stärken, die die Atomenergie befürworten. Doch das heisst nicht, dass es keine aktive Anti-Atomkraftbewegung gäbe. Ganz im Gegenteil.

«Wir sind noch glimpflich davongekommen. Aber ich habe Todesängste ausgestanden», sagt die Ärztin Kaoru Konta in Inawashiro im Norden der Präfektur Fukushima. Zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Mutter führt sie, in Japan nicht unüblich, eine kleine Privatklinik als Familienbetrieb. Auch ihr Mann Tsuyoshi ist Arzt. Die Strahlung liegt hier, im Schatten einer Gebirgskette, die die radioaktiv belasteten Wolken staute, von einigen Hot Spots abgesehen, nur wenig über »normal«. Der Ort mit 15 000 Einwohnern ist ein beliebtes Touristenziel. Es gibt ein kleines Skigebiet, der gleichnamige See bettet sich zauberhaft in das Hochtal, in dem der Schnee noch bis in den Mai hinein liegen bleibt. Die staatliche Tourismusagentur wirbt landesweit um Gäste. Die Plakate versprechen die von der Regierung wie ein Mantra propagierte Wiederkehr zur Normalität. Auch die Schnellstraße aus Tokio, deren Bau nach dem Atomunfall unterbrochen wurde, ist inzwischen fertiggestellt. Sie führt, bewacht von einer Polizeieinheit, die verhindern soll, dass jemand die Autobahn verlässt, mitten durch stark verstrahltes Gebiet. Nicht dass Touristen in Inawashiro nicht willkommen wären. Tatsächlich trägt, wer hier einen Urlaub verbringt, ein durchaus tolerables Strahlenrisiko – im Gegensatz zur Bevölkerung, namentlich Kinder und Jugendliche, die der Strahlung rund um die Uhr ausgesetzt ist. Konta kritisiert die Doppelzüngigkeit der Behörden, die eine Normalität vorgaukelten, die es nicht mehr gebe. Sie selbst wollte nach der Katastrophe, wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen, nur noch weg. Ihr Mann habe an ihre Verantwortung gegenüber ihren Patientinnen und Patienten appelliert. So blieb sie, nachdem sie ihre drei Kinder in Sicherheit wusste. Die Eindrücke von ihr und ihrem Mann über den Gesundheitszustand der Bevölkerung bleiben bruchstückhaft. Generell seien die Menschen geschwächt, meist, ohne dass sich ein konkreter Befund ermitteln lasse. Viele hätten psychische Probleme. Konta hat ein Ultraschallmessgerät zur Bestimmung von Schilddrüsentumoren beschafft. Allgemein erwartet werden in Fukushima einige hundert bis einige tausend Fälle von Schilddrüsenkrebs, vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Mindestens drei Jahre vergehen, bis sich die ersten Symptome zeigen. Erste Fälle seien bereits aufgetreten, sagt Konta.

Ihr Mann, der sie noch so ermuntert hatte zu bleiben, ist am Verzweifeln. Nicht wegen der Arbeit, da sei er voll bei der Sache. Nein, die Verzweiflung sei politisch. Er und viele seiner Kollegen hätten sich bei den letzten Gouverneurswahlen sehr für einen unabhängigen, atomkritischen Kandidaten engagiert, bis zuletzt an einen Wahlsieg geglaubt und schließlich haushoch verloren – gegen einen Kandidaten der regierenden Liberaldemokraten, der sich zwar gegen Atomenergie in Fukushima ausspreche, etwas, woran noch nicht einmal die Betreiberfirma Tepco denkt, anderseits aber für einen Weiterbetrieb der bestehenden Anlagen votiert. »Ich verstehe die Welt nicht mehr. Wie kann es sein, dass Menschen so gegen ihre eigenen Interessen votieren?«


Für Eiji Oguma gilt dieser Widerspruch nur sehr bedingt. Der Professor für historische Soziologie an der Universität Keio in Tokio beobachtet die atomkritische Bewegung und die Einstellung der japanischen Bevölkerung zur Atomenergie seit Jahren. Für ihn gibt es keinen Zweifel: »Die Japanerinnen und Japaner wollen keine Atomenergie mehr. Unter keinen Umständen. Daran wird sich auch nichts mehr ändern. Denn wir haben ja schon fast zwei Jahre ohne Atomstrom gelebt. Früher hätte man das für unmöglich gehalten.« Doch wie kommt es, dass jene politischen Kräfte, die für die Atomenergie votieren, trotzdem obenaus schwingen? Das Thema sei zugunsten der Wirtschaftspolitik propagandistisch geschickt aus der politischen Agenda verdrängt worden, sagt Oguma. Die Regierung habe taktisch alles richtig gemacht. »Aber das Atomthema kann sie auf Dauer auch nicht unter dem Deckel halten.« Denn selbst unter den LDP-Wählerinnen und -Wählern seien heute 70 Prozent gegen Atomenergie.

Dafür sorgt unter anderem eine bunte, heterogene Bewegung, die seit 2012 jeden Freitag vor den Toren des japanischen Parlamentsgebäudes demonstriert, eine laute, aber sehr disziplinierte Truppe. Damals waren bis 200 000 Menschen gekommen, um sich etwa eine mitreißende Rede des Literaturnobelpreisträgers Kenzaburo Oe anzuhören: Er werde gegen jene kämpfen, die so täten, als ob Hiroshima, Nagasaki und Fukushima nie passiert wären. Am Rednerpult war auch Ruiko Muto aus Koriyama gestanden, die mit ihrer Frauengruppe trotz einer sich ausbreitenden Gleichgültigkeit nicht müde wird, an den Toren der Mächtigen zu rütteln und Gerechtigkeit einzufordern für die Opfer der Atomkatastrophe – und für einen Schlussstrich: Nie wieder Atomkraft in Japan. Heute kommen noch einige hundert Menschen, von den Medien weitgehend unbeachtet, an die Freitagsdemos. Ans Aufgeben denkt hier niemand, auch die friedlichen Besetzer eines Stückes Gehsteig vor dem Verwaltungsgebäude des Ministeriums für Wirtschaft, Handel und Industrie nicht. Sie haben ihr Protestzelt aufgeschlagen und gedenken, sich auch von einer Rekordbuße – für widerrechtliches Besetzen öffentlichen Grundes – nicht abschrecken zu lassen.

Das gilt auch für das Bürgerzentrum für nukleare Information CNIC, das schon seit 1975 engagiert gegen die Atomenergie ankämpft und mit Fukushima einigen Zulauf erhalten hat. Die Arbeit des achtköpfigen Teams besteht primär im Dokumentieren und Informieren. Das Nuke Info erscheint monatlich mit einer Auflage von 3500 Exemplaren und gilt als die wichtigste Quelle für alle, die sich abseits der offiziellen Informationen in einer zunehmend regierungsfreundlichen Medienlandschaft ein Bild über die Situation in Japan und in der restlichen Welt machen wollen. Generalsekretär Hideyuki Ban gibt sich keinen Illusionen hin, was die atomskeptischen Umfrageergebnisse zur Haltung der Bevölkerung zur Atomenergie betrifft. »Eigentlich ist nur eines klar: Es werden keine neuen Kraftwerke mehr gebaut. Alles andere ist in der Schwebe.« Unter den Atomgegnern sei man sich zwar einig, dass auch für eine Übergangszeit keine Reaktoren mehr hochgefahren werden sollten, doch in der Bevölkerung gebe es eine knappe Mehrheit, die damit leben könnte, zumindest so lange, bis ausreichend umweltfreundliche Alternativen zur Verfügung stünden.

Leben mit Radioaktivität
Im Strahlen-Messzentrum Tarachine in der Hafenstadt Iwaki, rund 50 Kilometer südlich vom Unglücksreaktor, geht es um eine ganz andere Zukunft: leben mit Radioaktivität weit über der Norm. In Iwaki und Umgebung werden Werte zwischen einem und 12 Millisievert erreicht. Im ausschließlich mit Spendengeldern finanzierten Messzentrum kann die Bevölkerung sich selber prüfen lassen mit einem Ganzkörper-Messgerät, das wesentlich genauere Ergebnisse liefert als die üblichen Geigerzähler. Lebensmittel- und seit Kurzem Bodenproben können ebenfalls getestet werden. Während die Nachfrage nach Ganzkörper-Messungen stark nachgelassen hat, bringen mehr und mehr Leute Lebensmittel und Bodenproben vorbei. Die Resultate werden regelmäßig veröffentlicht. Während bei den im Handel erhältlichen Lebensmitteln im Großen und Ganzen die Grenzwerte eingehalten werden, zeigen sich bei im Wald gesammelten Pilzen, Wurzeln und Früchten teilweise dramatisch erhöhte Werte.

»Dabei«, so Ko-Geschäftsführerin Ayumi Nozaki, »ist gerade in dieser Region das Sammeln besonders beliebt.« Auch die Behörden wiesen auf die Risiken hin, erteilten auch Verbote, »doch durchsetzen lassen sich diese nur, wenn etwa wilde Pilze in den Verkauf gelangen«. Aufklärung tue deshalb Not. »Wir tun, was wir können, und weisen auf die Gefahren hin. Doch gerade in den ländlichen Gebieten scheren sich vor allem die älteren Familienmitglieder wenig darum. Und dann braucht es gerade in den traditionellen Strukturen einer Großfamilie einigen Mut seitens der jungen Generation, um sich durchzusetzen.« Oft heiße es dann, die Nachbarn täten es ja auch und man wolle sich deshalb nicht exponieren. »Es läge primär an den Behörden, mehr zu tun.« Doch auch hier gilt, wie in der ganzen Präfektur Fukushima, die Devise einer von oben verordneten Normalität, die die Folgen der Katastrophe herunterspielen will.

Kazumi Watanabe will dem etwas entgegensetzen. Sie hat ein Ferienheim an einem Berghang in der Nähe von Inawashiro gemietet und bietet Eltern mit ihren Kindern aus der ganzen Präfektur Erholungswochen an. Hätte sie von Erholungsurlaub nur für Fukushima-Opfer gesprochen, ihr Antrag wäre chancenlos gewesen. Denn das Problem ist offiziell ja gelöst. In ungezwungener Atmosphäre sollen vor allem die Kinder Dinge tun, die ihnen zu Hause von den besorgten Eltern oft verboten werden: Draußen spielen, herumtoben, die Natur erleben – und Englisch lernen. Das hätte Watanabe eigentlich nicht vorgesehen gehabt, doch es war der einzige Weg, um von den Behörden etwas Geld dafür zu erhalten. »Japan mag keine großen Politiker hervorbringen, aber es verfügt über eine unglaublich tüchtige und weise Bevölkerung«, sagt der Soziologe Eiji Obuma. Ihm ist nicht bang um die Zukunft. »Während in Deutschland der Atomausstieg imageträchtig von Politikern hinausposaunt wurde, machen sich die Menschen in Japan nach Fukushima ganz pragmatisch auf den Weg eines Landes ohne Atom. Sie werden sich gegen Politiker, Bürokraten und die Atomwirtschaft durchsetzen. Die sind wie einst die Dinosaurier zum Aussterben verurteilt, weil sie sich an den Wandel nicht anpassen können. Die Mäuse werden sich durchsetzen.«

Zum Weiterlesen:

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