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»Das ist nicht unsere Sache«

geschrieben von  Urs Fitze Text), Werner Stuber (Bild)

Die atomare Katastrophe in Fukushima-Daiichi war die Folge unverantwortlichen Handelns der Betreiberfirma Tepco und der staatlichen Aufsichtsbehörden. Von Verantwortung ist auch jetzt nur auf Nachfrage die Rede.

Verantwortung: Das Wort bringt Satoshi Togawa während zwei Stunden nur ganz am Ende des Gesprächs über die Lippen, als er, auf Nachfrage, von der »sozialen Verantwortung« spricht, die sein Arbeitgeber gegenüber den Angestellten in Fukushima empfinde. Er ist Sprecher der Tokyo Electric Power Company (Tepco), jener Firma im Herzen des Nuclear Village, die, unwidersprochen und durch unabhängige Untersuchungen bestätigt, die wesentliche Verantwortung für die Katastrophe in Fukushima Daiichi trägt.Das eigentliche Problem, der fast totale Stromausfall nach der Zerstörung der Generatoren durch den Tsunami, war von Tepco als undenkbar erachtet worden. Entsprechend gab es keine Handbücher oder Anleitungen, wie sich die Bedienungsmannschaft zu verhalten habe. Yotaro Hatamura, emeritierter Professor für Ingenieurswesen an der Universität Tokio und Leiter der Untersuchungskommission zur Katastrophe von Fukushima Daiichi, umschreibt das Verhalten in einem Interview so: »Nachdem in einem Dekret der Regierung festgestellt worden war, dass es in Ordnung sei, einen Stromausfall für ausgeschlossen zu halten, machte sich bei Tepco niemand mehr weitere Gedanken dazu.« Doch das Undenkbare geschah. Und niemand war darauf vorbereitet. So sei die menschliche Natur, sagt Hatamura weiter. »Dinge, die wir nicht wahrhaben wollen, nehmen wir nicht zur Kenntnis. Und über Dinge, über die wir nicht nachdenken wollen, denken wir auch nicht nach. Wenn es um nukleare Anlagen gehe, müsste dieses urmenschliche Verhalten aber unbedingt mitbedacht werden. Das ist ein ganz zentraler Punkt. Und Tepco hat sich nicht im Geringsten darum gekümmert.«

Togawa hat sich gut vorbereitet. Das Gespräch findet im Pressezentrum statt, einem bunkerartigen Raum im Hauptquartier der Firma. Kollege Yoshimi Hitosugi assistiert ihn, der Tablet- Computer assistiert den Kollegen. Über vier Jahre nach der Katastrophe fasst Togawa den Stand der Dinge zusammen. Erstmals sei es gelungen, einen Miniroboter in den geschmolzenen Reaktorkern beim Reaktor Nr. 1 mit Baujahr 1971 einzuführen. Das eigens entwickelte Maschinchen hielt der extrem hohen Strahlung nur drei statt der erhofften zehn Stunden stand. Dann gab es den Geist auf. Die in dieser Zeit übermittelten Messergebnisse rapportiert Togawa. Die Temperaturen bewegen sich im normalen Bereich – die Kühlung funktioniert. Die Strahlung liegt zwischen sieben und zehn Sievert – bis zum Zehntausendfachen über »normal«. Ein Mensch würde hier keine Stunde überleben. Irgendwo, niemand weiß Genaueres, muss es Undichtigkeiten geben, durch die Grundwasser strömt. Es wird kontaminiert und muss aufgefangen und dekontaminiert werden. Doch das gelingt nicht vollständig. Das Wasser – rund 300 000 Liter täglich – muss in Tanks zwischengelagert werden. Wie es dereinst entsorgt werden soll, weiß Togawa nicht – und wohl auch sonst niemand in der Firma. Abdichten lassen sich die Lecks, von denen man ja nicht einmal die genaue Lage kennt, nicht. Deshalb soll ein für das Grundwasser undurchdringlicher, 30 Meter tief in den Boden reichender Panzer aus Eis rund um das Reaktorgelände gelegt werden, ein laut Togawa verlässliches Abdichtungsverfahren etwa beim Bauen in grundwasserdurchströmtem Gelände, das für einen solchen Zweck aber weltweit weder getestet noch angewendet worden ist. Für die 7000 Beschäftigten auf dem Gelände – mehr als zu Betriebszeiten der vier Reaktorblöcke – sei eine Kantine gebaut worden. Damit steht erstmals warmes Essen zur Verfügung. Auch eine zentrale Umkleideeinrichtung sei im Bau. Wie es um die Strahlensicherheit der auf dem Gelände Tätigen bestellt sei, wisse er nicht. Das sei nicht Sache von Tepco, sondern der Subunternehmer, die die Leute anstellten. Auch über deren Qualifikationen und die Anstellungsbedingungen könne er nichts sagen. Keine Auskunft gibt es schließlich auch zur Frage nach der Entsorgung des kontaminierten Erdreichs, das in der ganzen Präfektur in Zwischenlagern in riesigen Säcken deponiert worden ist. Das sei nicht Sache von Tepco, sondern der betroffenen Gemeinden. »Wir erhalten nur die Rechnungen«, sagt Togawa. Es ist nicht Tepcos Geld, von dem er spricht. Die japanische Regierung hat ein halbes Jahr nach der Katastrophe das Unternehmen Nuclear Damage Compensation and Decommissioning Facilitation Corporation (Fördergesellschaft für die Kompensation von Nuklearschäden) ins Leben gerufen, das formal zur Hälfte dem Staat, zur Hälfte den großen Unternehmen der Nuklearbranche gehört. Doch das Geld zur Finanzierung kommt fast ausschließlich aus der staatlichen Schatulle, und die Mehrheit der Tepco-Aktien ist in dessen Besitz – eine faktische Verstaatlichung. 4,6867 Billionen Yen (rund 35 Milliarden Euro) hat Tepco bis März 2015 erhalten. Die japanischen Atomanlagenbetreiber müssen sowohl eine private Haftpflichtversicherung als auch eine Freistellungsvereinbarung abschließen, doch deren Deckungssumme beträgt pro Anlage lediglich 120 Milliarden Yen (knapp 900 Millionen Euro), und die privaten Versicherungen decken keine durch Erdbeben verursachten Schäden ab. Auch die Geschädigten hatten keine Leistungen ihrer Versicherer aus radioaktiver Kontamination zu erwarten. Es ist wie beim Stromausfall nach dem Tsunami. Offensichtlich durfte nicht geschehen, was als undenkbar erachtet wurde. Angesichts zu erwartender Kosten der Reaktorkatastrophe von insgesamt gegen 200 Milliarden Euro, was etwa 50 Tepco-Jahresgewinnen (in guten Geschäftsjahren) entspricht, kann nur der Staat beziehungsweise die Gesellschaft diese Last tragen. Wie hatte der japanische Regierungssprecher kurz nach der Katastrophe gesagt? Die Umsetzung des japanischen Atomhaftungsgesetzes, das eine Haftung der Betreiber von Atomkraftwerken im Falle von Naturkatastrophen ausschließt, sei »unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen unmöglich«. Die Macht des Faktischen führte ihn ad absurdum. Weder das Unternehmen noch das Land war auf eine Katastrophe solchen Ausmaßes auch nur annähernd vorbereitet gewesen.

Eine Delegation der Internationalen Atomenergieagentur inspiziert im Sommer 2015 die Atomanlage Kasthiwazaki-Kariwa (Bild: Tepco)


»Wir haben aus unseren Fehlern gelernt«
Tepco treibt, wie die anderen Betreiber auch, die Wiederinbetriebnahme der als sicher geltenden AKWs voran, etwa im weltgrößten Atomkraftwerk Kashiwazaki-Kariwa, dessen sieben Reaktoren mehr als zehnmal so viel leisten könnten wie die beiden Reaktoren des dienstältesten Kraftwerks der Welt in Beznau im Kanton Aargau. Zwei Atomreaktoren sind (Stand April 2016) bis heute wieder in Betrieb, für weitere 42 laufen die Bewilligungsverfahren. Die Unsicherheit und die Skepsis in der Präfektur sind ähnlich groß wie in der ganzen Bevölkerung Japans. Kann Tepco gegen den Willen der Menschen vor Ort handeln? Tepco-Sprecher Togawa weicht aus: »Ich habe Verständnis für die Verunsicherung in der Bevölkerung und den Vertrauensverlust. Aber wir haben aus unseren Fehlern gelernt, und wir möchten beweisen, dass wir das Vertrauen wieder verdienen. Und wir stehen auch in der sozialen Verantwortung für all die Angestellten und ihre Familien, deren Zukunft auf dem Spiel steht.« Da ist es, das Zauberwort: Verantwortung – in diesem Zusammenhang allerdings ein primär taktisches Argument, wenn das Wohl der gesamten Bevölkerung unter jenes der knapp 40 000 Tepco-Beschäftigten gestellt wird. Letztlich aber, sagt Togawa, liege die Entscheidung über die Zukunft der Atomkraft in Japan bei Parlament und Regierung. Die Regierung verhält sich, bei aller Propaganda und Missachtung der Ängste in der Bevölkerung, bei genauerer Betrachtung erstaunlich zurückhaltend. Zwar werden regierungspolitische Ziele definiert, die primär aus wirtschaftlichen Überlegungen die Atomkraft als »wichtigen Bestandteil der Energieversorgung« ansehen. Zynisch muten die Berechnungen an, die unter Ausklammerung der Kosten einer Katastrophenbewältigung die Atomkraft als billigsten Energieträger darstellen. Doch die konkrete Umsetzung wird mit erstaunlich wenig Überzeugungskraft angegangen – wie wenn sich die Regierung um eine endgültige Stellungnahme drücken wollte. Tatsächlich sitzt sie zwischen Stuhl und Bank. Da ist auf der einen Seite das »Nuclear Village« mit dem Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie als Schaltzentrale, auf der anderen Seite eine müde, passive, aber atomkritische Bevölkerung, die sich mit einer befristeten Wiederinbetriebnahme einiger Meiler arrangieren könnte, um die derzeit extreme Abhängigkeit von klimaschädlichen Energieträgern wie Kohle, Gas und Öl zu verringern. Zumindest sagt das eine konstant knappe Mehrheit in den Umfragen, vorausgesetzt, die Perspektive heißt Ausstieg. So überlässt die Regierung die Entscheidung über die Wiederinbetriebnahme den atomaren Aufsichtsbehörden und den Gerichten. Deren Interpretationsspielraum ist groß genug, dass eine Betriebsbewilligung nicht nur aus formaljuristischen, sondern auch aus grundsätzlichen Überlegungen verweigert werden kann - wenn das Gericht zur Überzeugung gelangt, die Sicherheitsmaßnahmen seien ungenügend und ein Unfall lasse sich nicht ausschließen, was ein Einzelrichter in zwei Fällen tatsächlich so entschieden hat. Ein Funktionär einer Lobby-Organisation, der nicht genannt werden möchte, bringt es auf den Punkt: »Wir alle wüssten gern, wie es weitergeht.«

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Kyoko Oba, Ökonomin und Soziologin, Tokyo, Japan: «Ethik der Rechenschaft und Verantwortlichkeit.»