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Alter Wein im neuen Schlauch

geschrieben von  Urs Fitze

Japans Regierung unter Premier Shinzo Abe setzt wieder auf Atomstrom – gegen den Willen der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit. Mit einer klientelistischen Politik bedient er primär die wirtschaftlichen Interessen seiner Wählerinnen und Wähler in den ländlichen Gebieten des Landes.

Seit der Katastrophe sprechen sich in sämtlichen Umfragen um die 70 Prozent der Bevölkerung Japans gegen die Atomenergie aus – in einem Land, das zuvor noch geplant hatte, bis 2100 die Hälfte des gesamten Energiebedarfs mit Atomstrom zu decken. Doch der Atomausstieg ist nur mit einer Regierung zu haben, die den offensichtlichen Wunsch der Bevölkerung umzusetzen gedenkt. Davon kann keine Rede sein. Der japanische Premierminister Shinzo Abe von der Liberal-Demokratischen Partei, die seit ihrer Gründung 1955 mit Ausnahme der Jahre 1993 und 1994 sowie 2009 bis 2012 die Regierung stellt, forciert den Wiedereinstieg und sieht die Atomenergie auch mittelfristig als wichtigen Pfeiler der japanischen Energieversorgung. In Japan waren von September 2013 bis August 2015 sämtliche der verbliebenen 48 Atomreaktoren stillgelegt. Seit Juli 2013 gelten die laut Abe «strengsten Sicherheitsregulierungen der «Welt», über die Betriebsbewilligungen entscheidet die neu geschaffene, formell unabhängige Nukleare Regulierungsbehörde. In der Zwischenzeit liegt eine ganze Reihe von Bewilligungen vor, zwei Reaktoren sind wieder in Betrieb, für weitere 22 liegen Gesuche vor. In mehreren Fällen wehrt sich vor allem die lokale Bevölkerung vor Gericht und hat dabei auch schon den einen oder anderen Sieg davongetragen, allerdings nie vor der höchsten Instanz. Bis 2020 soll wieder ein Fünftel des japanischen Stroms mit Atomkraft erzeugt werden. Vor Fukushima lag der Anteil bei knapp 30 Prozent.
Shinzo Abes Popularität schadet das nicht. Seine als »Abenomics« angepriesene, in jüngster Zeit arg ins Stocken geratene, Wirtschaftspolitik besteht im Wesentlichen aus altem Wein – Schulden und Notenpresse – in neuen Schläuchen – Versprechungen primär an jene Wählerschichten in ländlichen Gebieten, auf deren Stimmen er seine Macht baut. Zu diesen zählt auch die Präfektur Fukushima. Dort holte Abes Partei bei den letzten Wahlen im Dezember 2014 vier der fünf Parlamentssitze, im gesamten Wahlkreis Tohuku, der den nördlichen Teil der Hauptinsel Honshu umfasst, waren es 19 von 25. Tohuku ist ein von stürmischen Meeren gesäumtes Gebirgsland, das nach Norden ein zunehmend raueres Klima zeigt. Die Präfektur Fukushima liegt am südlichen Rand, nur der Küstenstreifen am Pazifischen Ozean bietet flaches Gelände mit oft steil abfallenden Klippen. Der mittlere Teil wird geprägt von sanften Hügelketten, die westliche Region besteht zu einem großen Teil aus Hochgebirge mit größeren Becken, die einst Zentren der Seidenindustrie waren, und dem mit 2356 Meter höchsten Berg Tohokus, dem Hiuchigatake. Von der ersten Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb Fukushima weitgehend ausgeklammert. Die extreme Armut zwang viele in die Emigration. Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg und dem Verlust der eroberten Gebiete in ganz Asien, die auch zu landwirtschaftlichen Zwecken ausgebeutet worden waren, war Japan auf sich selbst zurückgeworfen. Das Land musste zum Selbstversorger für das wichtigste Nahrungsmittel, den Reis, werden. Tohoku wurde zur Reiskammer, die Reisflächen vervielfachten sich, Fischerei und Reisanbau wurden, neben Zulieferbetrieben für die Autoindustrie, zu den wichtigsten Standbeinen der lokalen Wirtschaft. Doch die Armut blieb. Viele Familien überlebten nur, weil die Männer, die im Sommer in der Landwirtschaft oder der Fischerei arbeiteten, im Winter auf Baustellen in den Großstädten ein Zubrot verdienten und die Frauen als Billiglohnarbeiterinnen in der Kleinindustrie arbeiteten. Hunderttausende, in der Regel die am besten ausgebildeten jungen Leute, wanderten – und wandern – in die Metropolen Tokio und Osaka ab. Als in den späten 1950er-Jahren die ersten Pläne für die Stromerzeugung in Atomkraftwerken geschmiedet wurden, suchte man gezielt in der Peripherie der Metropolen nach Standorten. Doch erst als die Regierung Anfang der 1960er-Jahre mit Subventionen die Atomindustrie zu fördern begann, kam der Zug in Fahrt. Die Küstenregion Fukushimas war wie maßgeschneidert für eine Atomanlage, im vergleichsweise armen »Tibet Japans« drohte auch weit weniger Widerstand – die Atombombenabwürfe von 1945 waren ja erst ein gutes Jahrzehnt her – seitens der atomskeptischen Bevölkerung. Doch selbst das Versprechen der Beschäftigung für Tausende während der Bauphasen erwies sich als hohl. Von Anfang an wurden miserabel bezahlte Zeitarbeitskräfte eingesetzt, die über Subunternehmen angeheuert wurden, welche von der japanischen Mafia kontrolliert worden waren. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Eine hörbare politische Stimme haben die ausgebeuteten Zeitarbeiter bis heute nicht. Denn die politische Opposition, primär die Demokratische Partei, ist total zerstritten, gerade in der Atomfrage. Es sind die der Partei nahestehenden, traditionell industrienahen Gewerkschaften, die sich an die Seite der Atomlobby stellen, während die Kräfte, die für einen Ausstieg plädieren, sich parteiintern nicht durchsetzen können. So bleibt die vermeintlich atomkritische Alternative politisch unglaubwürdig. Abe nutzte die Konfusion und schrieb vorzeitige Neuwahlen aus. Er gewann sie im Dezember 2014 zusammen mit seinem Koalitionspartner mit einer komfortablen Zweidrittelmehrheit bei miserabler Stimmbeteiligung. Fast die Hälfte der wahlberechtigten Japanerinnen und Japaner gingen nicht mehr zu den Urnen.

 

zum Weiterlesen:

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