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Wunsch und Wirklichkeit

geschrieben von  Urs Fitze

Glaubt man den Modellberechnungen zur Wahrscheinlichkeit eines Super-Gaus, so wäre weltweit etwa alle 500 Jahre damit zu rechnen. Die Wirklichkeit hat eine andere Geschichte geschrieben.

Der Atem stockt, wenn man sich das Szenario eines Super-GAUs in einem der Schweizer Atomkraftwerke ausmalt. Es ist der schlimmste denkbare Unfall, wie ihn sich das Schweizerische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) ausmalt – Tschernobyl und Fukushima waren weit schlimmer. Bei einem Super-GAU kommt es in der Schutzhülle nach einer Kernschmelze im Reaktor zu einem Überdruck. Wie bei einem Dampfkochtopf müssen Ventile geöffnet werden, um den Druck abzubauen. Dabei treten größere Mengen radioaktiver Gase aus. Das soll aber erst sechs Stunden nach der Kernschmelze geschehen und acht Stunden dauern. Die Bevölkerung in einem Umkreis von 20 Kilometer wird, abhängig von den Wetterprognosen, vorsorglich evakuiert – im Falle des AKW Mühleberg über eine halbe Million Menschen. Wären es, wie in Tschernobyl, 30 Kilometer, wären weit über eine Million Menschen betroffen. In den ENSI-Szenarien wird nur mit der Freisetzung von radioaktiven, gasförmigen Nukliden mit kurzer Halbwertszeit gerechnet, namentlich Jod. Die weit langlebigeren Gase Strontium und Cäsium blieben demnach, ohne erkennbaren Grund, in der Schutzhülle. Weder in Tschernobyl noch in Fukushima folgte die Wirklichkeit auch nur annähernd diesem Szenario. Stattdessen herrschten Chaos und Verwirrung, und das wahre Ausmaß der radioaktiven Freisetzung ließ sich erst mit einiger zeitlicher Verzögerung überhaupt ermitteln. Man stelle sich nur schon das Chaos einer Evakuierung von Hunderttausenden Menschen binnen weniger Stunden vor. Was, wenn diese Menschen wegen zeitlicher Verzögerungen den Abgang nicht rechtzeitig schaffen? Wäre es dann nicht gescheiter, im Haus oder Keller zu verbleiben, wo das Mauerwerk die Strahlung um bis das Fünfzigfache reduziert? Niemand hat eine Antwort. Keine Antwort weiß das Schweizer Katastrophen-Szenario auch auf die Frage, wie das Leben nach einem radioaktiven Fallout überhaupt weitergehen soll. Eine nicht mehr bewohnbare 30-Kilometer-Zone rund um eines der Schweizer Atomkraftwerke erscheint tatsächlich kaum vorstellbar. Da ist es wohl besser, sich gar nicht darauf vorzubereiten.
Doch wie wahrscheinlich ist ein solcher Unfall der höchsten Kategorie 7 auf der INES-Skala? Es gibt zwei Antworten, eine theoretische und eine praktische. Die theoretische basiert auf Modellrechnungen, die praktische auf dem tatsächlichen Geschehen seit der ersten vom Menschen eingeleiteten Kernspaltung 1938. Die Autoren der »Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke – Phase B« kamen 1989 für das Kernkraftwerk Biblis zum Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Kernschmelze pro Reaktor-Betriebsjahr (1,2 tatsächliche Jahre) in diesem Kraftwerk im Süden von Hessen bei 3,6 Millionstel liegt. Anders ausgedrückt: In einem von 280 000 Jahren kommt es zu einem Super-GAU. Zu welchem Zeitpunkt dies geschieht, weiß allerdings kein Mensch. Gegenüber früheren Studien, etwa der US-amerikanischen Kommission für nukleare Sicherheit, die von Zeiträumen von einer bis zehn Millionen Jahren gesprochen hatten, war dies eine ziemlich dramatische Erhöhung des Risikos. Untersuchungen aus dem Jahr 2003 an neueren AKWs bestätigten im Großen und Ganzen die Ergebnisse von 1989. Für die Schweiz wird die Wahrscheinlichkeit eines solchen Unfalles im Bereich der Wahrscheinlichkeit eines Staudammbruches angesiedelt. Nimmt man die knapp 500 AKW’s weltweit zum Maßstab (laufende und projektierte), wäre danach etwa alle 500 Jahre mit einer solchen Katastrophe zu rechnen. Nicht berücksichtigt sind die unterschiedlichen Kraftwerkskonzepte und Sicherheitskulturen.
Die praktische Erfahrung rückt die Wahrscheinlichkeit eines Super-GAUs weit näher. Jos Lelieveld vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz berechnete dies auf Basis der 14 500 Reaktorjahre seit Inbetriebnahme des ersten zivil genutzten AKWs und der bisher erfolgten Kernschmelzen – eine in Tschernobyl, drei in Fukushima. Danach ist im Rhythmus von 3625 Reaktorjahren mit einer Kernschmelze zu rechnen. Wiederum bezogen auf die Zahl von 500 AKWs ist alle sieben bis acht Jahre weltweit ein solcher Unfall zu erwarten. Und selbst wenn man die von vielen Kritikern monierte Zahl von drei Kernschmelzen in Fukushima auf eine reduziert (die Ursache war ja tatsächlich dieselbe: Erdbeben und Tsunami), bleibt die Zahl von 7250 Reaktorjahren. Bei 500 AKWs wären dann noch etwa alle zwei Jahrzehnte eine Kernschmelze zu erwarten. Wie glaubwürdig die Modellrechnungen für die Atomreaktoren der neuesten, sogenannt »vierten« Generation sind, wo davon gesprochen wird, dass nur einmal in 100 Millionen Jahren ein Super-GAU zu erwarten sei, muss dahingestellt bleiben. Die historische Erfahrung lässt daran zweifeln. Die nach der Katastrophe von Fukushima in der Europäischen Union und deren Nachbarstaaten durchgeführten Stresstests an den Atomkraftwerken stimmen nicht optimistischer. In jedem dritten Reaktorblock sind die modernen Standards der Erdbebenrisikoberechnung nicht berücksichtigt, die eine Erdbebensicherheit für Beben, die alle 10 000 Jahre auftreten, verlangen. Fast die Hälfte erfüllen auch die Standards für Überflutungen nicht, die ebenfalls einen Zeitraum von 10 000 Jahren verlangen. In fünf Reaktoren reicht die Notstromversorgung nicht einmal für eine Stunde Betrieb, und 57 der 146 in Europa getesteten Reaktoren verfügen über keine Leitlinien für das Vorgehen bei schweren Unfällen bis zur vollständigen Abschaltung.
Letztlich, so zeigt sich, ist die Wissenschaft nicht in der Lage, die Frage nach den Risiken der Atomenergie-Produktion schlüssig zu beantworten, sei es, weil sie interessengebunden ist, sei es, weil der Interpretationsspielraum der Ergebnisse so groß ist, dass jedermann genau das herauslesen kann, was ihm beliebt – ohne damit wirklich falsch zu liegen. Das Deutungsmonopol der Forschung, wie es in den Jahren der großen Atomeuphorie noch gegolten hatte, ist Geschichte. Heute ist die Wissenschaft so glaubwürdig oder unglaubwürdig wie die Politik, die sich in ihren Entscheidungen stets auf die fast hoheitlich anmutende Wahrheit der Wissenschaft zu stützen pflegt. Der Risikosoziologe Charles Perrow spricht von einer neuen Klasse von »Schamanen, die wir Risiko-Forscher nennen. Und es könnte sein, dass es, wie bei ihren der Magie huldigenden Vorgängern oder den Ärzten des Mittelalters, gefährlicher sein könnte, auf ihren Rat zu hören, als das Leiden in Kauf zu nehmen.« Der Philosoph Martin Heidegger nennt dieses Denken »rechnend«, weil es nur das »Seiende« betrachte und rechnend dessen Verwendbarkeit für sich erfasse. »So gibt es denn zwei Arten von Denken, die beide jeweils auf ihre Weise berechtigt und nötig sind: das rechnende Denken und das besinnliche Nachdenken. Dieses Nachdenken aber meinen wir, wenn wir sagen, der heutige Mensch sei auf der Flucht vor – dem Denken. Allein, so entgegnet man, das bloße Nachdenken schwebt doch unversehens über der Wirklichkeit. Es verliert den Boden. Es taugt nichts für die Bewältigung der laufenden Geschäfte. Es bringt nichts ein für die Durchführung der Praxis. Und schließlich sagt man, das bloße Nachdenken, die ausdauernde Besinnung sei für den gewöhnlichen Verstand – zu ›hoch‹.« (Heidegger, Martin: Gelassenheit. Zur Erörterung der Gelassenheit. Aus einem Feldweggespräch über das Denken. Pfullingen 1992)

Zum Weiterlesen:

Sebastian Pflugbeil, Deutsche Gesellschaft für Strahlenschutz. „Es wird wieder und wieder heruntergespielt“

Charles Perrow, Soziologe und Organisationstheoretiker, USA: «Atomkraftwerke gehören verboten.»