Zum Auftakt seines zweitägigen Staatsbesuchs gaben der russische Staatschef Wladimir Putin und der türkische Präsident Tayyip Erdogan den Startschuss für den Bau des ersten Atomkraftwerks in der Türkei. Im Rahmen der zelebrierten Feierlichkeit sprach Erdogan von einem „wahrhaft historischen Augenblick“, der zur „Energiesicherheit “der Türkei beitragen solle wie auch zum „Kampf gegen den Klimawandel“. Doch Kritiker zeichnen ein anderes Bild.
Erdbebengefährdeter Standort
Geologen sehen das Kernkraftwerk an der Mittelmeerküste als bedenklich an. Die Türkei liegt wie Japan über aneinanderstossenden Kontinentalplatten, regelmässig bebt die Erde. Vier Atomreaktoren sollen unweit einer Erdbebenspalte errichtet werden, berichtetet globalmagazin. Biologen sagen einen Anstieg der Meerestemperatur von bis zu 4 Grad voraus, durch Kühlung des Reaktorwassers im Meer. Einige Fischarten überlebten die Erwärmung nicht, Quallen könnten zunehmen. Die Bucht von Akkuyu an der türkischen Mittelmeerküste in der Provinz Mersin ist seither ein Badeparadies mit malerischen Buchten, auch Lebensraum, der vom Aussterben bedrohte Mönchsrobbe. Erdbeeren, Orangen und Tomaten gedeihen dort in Plantagen auf den Feldern. Mustafa Turgut, Stadtpräsident der nächsten grösseren Siedlung Silifke und Anhänger der oppositionellen CHP-Partei lehnt Atomenergie wegen der Risiken für Mensch und Natur grundsätzlich ab, berichtet die NZZ. Wohl kaum einer würde nach dem Störfall noch Erdbeeren aus der Gegend kaufen, auch der Tourismus würde leiden. 87 Prozent der Lokalbevölkerung sprachen sich laut Umfrage gegen das Kraftwerk aus. Von kleineren Protestaktionen und Sitzstreiks wie auch Blockaden des Informationszentrums in Mersin nimmt die Regierung gerade mal Notiz. Der Mehrzahl der Türkei scheinen Wirtschaftswachstum und Energiesicherheit wichtiger, als Umwelt und Gesundheitsrisiko.
Symbol der Annäherung
Ankara lässt bauen, allen Einwände zum Trotz – und wiegelt Kritiker mit Gegenstudien und flapsigen Sprüchen ab. Wer ein Leben ohne Risiko wolle, brauche auch keine Propgangasflasche für die Küche zu kaufen, soll Erdogan sechs Tage nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima gesagt haben. Eine zweite Reaktoranlage mit japanischem-französischem Know-How wird im Städtchen Sinop an der Schwarzmeerküste entstehen. Die Türkei komme ausgerechnet mit den Heimatländern der beiden grössten Atomkatastrophen der Geschichte ins Geschäft, konstatiert der Naturschutzbund Doga Dernegi. Wie fragil die türkisch-russische Zusammenarbeit ist, zeigt die Grundsteinlegung für das Projekt, die bereits 2015 stattfand. Rosatom stoppte die Bauarbeiten im Dezember 2015 nur wenige Tage nach dem Abschuss eines Flugzeugs der russischen Luftwaffe durch einen türkischen Abfangjäger im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Die Wiederaufnahme der Bauarbeiten am Kernkraftwerk kann als Symbol der Annäherung zwischen der Türkei und Russland gesehen werden, die im Syrienkrieg gegnerische Positionen einnehmen.
Wachsende Abhängigkeit
Der Strombedarf der Türkei wächst rapide, das Schwellenland bezieht einen Grossteil davon aus dem Ausland. Was der Regierung in Ankara finanziell sehr genehm ist, bedeutet aber wachsende Abhängigkeit zu Russland: Nach dem propagierten Build-Own-Operate-Modell (BOO) (mehr zu Russlands Atompolitik) hat sich der russische Staatskonzern Rosatom zum Bau und Unterhalt des ersten KKWs in der Türkei verpflichtet. Die Kosten für den Standort Akkuyu werden mit 16 Milliarden Euro beziffert. Nach einer Laufzeit von 60 Jahren soll Russland auch für die Stillegung der Reaktoren von 4800Megawatt verantwortlich sein. Nach eigenen Angaben legt das Land auch die Gesamtkosten für das AKW in Sinop aus. Die türkischen Partner sind für die Netzverbindung verantwortlich und garantieren die Abnahme der produzierten Energie.
Links:
NZZ über die türkisch-russische AKW-Kooperation
globalmagazin über neue Atomkraftwerke in der Türkei und die ökologischen Probleme