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Das strahlende Erbe im Jurabogen

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In der Schweizer Uhrenindustrie gab es lange Zeit keinen Strahlenschutz. Über die gesundheitlichen Folgen ist bis heute nur wenig bekannt. Auch nach der Sanierung der kontaminierten Liegenschaften in der Westschweiz bleibt ein Gefährdungspotential. 

Der wundersame Stoff leuchtet im Dunkeln: Radium wurde von Marie und Pierre Curie entdeckt. Bis in die 1960er Jahre hat man es als Leuchtfarbe für Uhrenziffernblättern verwendet. Dann wurde Radium in Schweizer Manufakturen wegen seiner gesundheitsgefährdenden Auslöser verboten. Die historische Studie „Die Verwendung von Radiumleuchtfarben in der Schweizer Uhrenindustrie 1907-1963“ im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) ermittelte insgesamt 1000 potentiell betroffene Liegenschaften. Deren Prüfung und Sanierung hat begonnen (s. Infokasten unten).

 

Dunkelziffer in der Heimarbeit

Rund 90 Prozent der kontaminierten Liegenschaften konnten ermittelt werden, aber eine nicht quantifizierbare Dunkelziffer bleibe, so der für die Studie verantwortliche Historiker Lukas Emmenegger von der Universität Bern. Das Setzen radioaktiver Leuchtfarben wurde zu zwei Dritteln in Heimarbeitslokalen und Klein – und Kleinstbetrieben durchgeführt, so das Ergebnis der statistischen Auswertungen des Historikers. Doch deren Arbeitsplätze sind nicht dokumentiert, weil die Auftraggeber erst um 1940 verpflichtet wurden, ein Verzeichnis über die von ihnen beschäftigten Heimarbeiterinnen zu führen. Das Auftragen von Radiumleuchtfarben wurde in erster Linie von jungen Frauen ausgeführt, der Historiker schätzt ihren Anteil an den Arbeiten bei 90 Prozent ein. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung war typisch für die Schweizer Uhrenindustrie. Emmeneggers Studie erbrachte eine andere, wesentliche Erkenntnis: Sie hat neue Aspekte des Strahlen- und Arbeitsschutzes ans Licht gebracht. (Zum Interview mit den Historiker)

 

Radiumsetzerinnen in den USA: Junge Frauen beschriften Zifferblätter von Uhren der Firma Ingersoll 1932 (Bild: Wiki Commons)

 

Wirtschaftsinteressen vor Strahlenschutz

Obwohl das gesundheitliche Gefährdungspotenzial des Radiums bereits seit Mitte der 1920er Jahre bekannt war,  blieben die Behörden und die Suva bis in die 1950er Jahre weitestgehend untätig, was den Strahlenschutz betraf. „Der Schutz der Arbeitnehmenden vor gesundheitsgefährdenden Stoffen wurde den wirtschaftlichen Interessen der Arbeitgeberseite – und im Beispiel der Radioaktivität auch den Interessen der Forschung, der Medizin und des Bundes – gegenübergestellt und diesen nicht selten untergeordnet“, sagt der Historiker Emmenegger.  Erst im Kontext internationaler Bestrebungen wurde Strahlenschutzmassnahmen auch in der Eidgenossenschaft etabliert. „Der Umgang mit Radium zeigt exemplarisch auf, dass zwischen der Feststellung des Gefährdungspotentials eines Stoffes und dessen legislativer Regulierung bisweilen ein langwieriger Aushandlungsprozess liegen kann. Dieser langjährige Aushandlungsprozess ist nicht atypisch für die Schweizerische Eidgenossenschaft”, sagt Emmenegger.

 

Die Folgen: Knochenmetastasen und Strahlendermatitis

Welche Folgen hatte das zähe Aushandeln in Sachen Strahlenschutz? Die in erster Line betroffenen Setzerinnern von Radiumleuchtfarben bezahlten teuer für ihre Arbeit – mit ihrer Gesundheit. Im Rahmen medizinischer Reihenuntersuchungen Anfang der 1960er Jahre stellen die Bundesbehörden und die Suva bei zahlreichen Radiumsetzerinnen somatische Schäden wie Knochenmetastasen, Spontanfrakturen und Strahlendermatitis fest. „Es liegen keine vollständigen Daten zu den gesundheitlichen Folgen vor, weil die gesetzliche Basis für die Einreihung strahleninduzierter Berufskrankheiten erst 1956 geschaffen wurde“, so Michel Hammans, Strahlenschutzexperte bei der Suva. Welchen Radium-Dosen die Betroffenen ausgesetzt waren, könne ebenfalls nicht schlüssig beantwortet werden, weil wenige personenbezogene Daten aus der Zeit von 1907 bis 1963 existierten, in der die radiumhaltigen Leuchtfarben gesetzt wurden. Gesetzliche Vorschriften fehlten auch hier. Dies änderte sich erst mit Inkrafttreten der Strahlenschutzverordnung im Jahr 1963.

 

Schadensersatz in Einzelfällen

Von den 40 Ganzkörpermessungen im Rahmen der Reihenuntersuchungen war bei rund 20 Personen der Grenzwert  im Körper überschritten. Insgesamt registrierte die Suva 61 Fälle strahleninduzierter Berufskrankheiten. Ob es sich dabei um ein realistisches Abbild handelt, lasse sich aus der Statistik nicht beantworten, heisst es bei der Suva. Es ist aber zu bezweifeln, angesichts von 60.000 bis 70.000 Beschäftigten in der Schweizer Uhrenindustrie (Arbeitegeberverband der Schweizerischen Uhrenindustrie) allein zwischen 1950 und 1960. Auf die Frage nach Schadensersatzforderungen heisst es: „Sofern im Einzelfall die Voraussetzungen für eine Berufskrankheit erfüllt waren, hat die Suva die gesetzlichen Versicherungsleistungen erbracht. „Weitere Schadensersatzbegehren sind nicht bekannt. Zu anerkannten Todesfällen wegen strahleninduzierter Berufskrankheiten ist es unseres Wissens nie gekommen“, sagt Hammans. „In der Schweiz gab es keine gesundheitlichen Auswirkungen, die zum Tod von Radium-Arbeiterinnen in grosser Zahl führten“, meint Christoph Murith, Projektleiter des BAG-Aktionsplanes. Das erkläre sich teilweise damit, dass die Leuchtfarbe, anders als in den USA, nicht mit dem Pinsel aufgetragen wurde. Dort kam es nach Todesfällen von Setzerinnen, den so genannten radium girls, zu weltweit beachteten Gerichtsprozessen. Zusammenfassend muss man sagen: Aussagekräftige Zahlen über die Anzahl und das Ausmass der strahleninduzierter Berufskrankheiten und das Aussmass liegen für die Schweiz nicht vor. Dass Sie weitaus mehr Arbeitnehmer betroffen haben, als jene, welche die Suva erfassen konnte, davon ist auszugehen.

 

Gefahr nach Sanierung gebannt?

Fakt ist: Die eidgenössischen Behörden zögerten in der Vergangenheit wider besseres Wissen, den entsprechende Schutzmassnahmen einzuführen. Die Last trug die Bevölkerung – und trägt sie weiterhin. Bei einer Überschreitung des Dosisgrenzwerts von 1mSv pro Jahr für die Einwohner werde saniert, so Christoph Murith Projektleiter des BAG Aktionsplanes Radium. Die Dosis in den bisher sanierten Wohnungen lag zwischen 1 und 17mSV/Jahr. Die Dosis von 2o mSv/Jahr entspricht der Dosisgrenze für beruflich strahlenexponierte Personen wie Röntgen- oder AKW-Personal. Es gilt das Vorsorgeprinzip, d.h. die Dosis so tief wie möglich zu halten. „Der Radium-Aktionsplan hilft, die Radium-Exposition zu verringern und die Aufnahme im Körper oder die Ausbreitung in die Umwelt zu vermeiden“, sagt Projektleiter Murith.

Kritikern, wie etwa dem Basler Onkologen Claudio Knüsli, geht die Dosisgrenze von 1mSV pro Jahr, empfohlen von der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP), nicht weit genug. „Heute muss man davon ausgehen, dass auch kleinste Strahlendosisraten von um 1mSv pro Jahr für die Gesundheit ein Risiko darstellen“, sagt Knüsli, der neueste Studien im Niedrigdosisbereich verglichen hat. (Interview mit Claudio Knüsli). Die Suva orientiert sich dennoch am internationalen Dosisgrenzwert „Das lineare Dosis-Wirkungsmodell wurde kürzlich von einer internationalen Expertengruppe durch Überprüfung der neuesten epidemiologischen Studien bestätigt“, so Strahlenschutzexperte Hammans. Onkologe Knüsli beruft sich ebenfalls auf das LNT Modell, das einen linearen Zusammenhang zwischen Dosis und Risiko, auch bei kleinen Dosen bestätigt. Wider besseres Wissen halten die Behörden auch diesmal an Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission fest, die revisionsbedürftig sind.

 

Betroffene Gemeinden mit potenziell kontaminierten Liegenschaften durch Radium (Bild: BAG)

 

Info-Kasten:

Zum Aktionsplan Radium 2015-2019

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) beauftragte die Universität Bern mit der historischen Suche nach potenziell mit Radium kontaminierten Liegenschaften durch die Schweizer Uhrenindustrie. Aufgrund von Meldungen aus der Bevölkerung, Recherchen von BAG und Suva konnten rund 600 Liegenschaften ermittelt werden. Die historische Suche konnte zusätzlich weitere rund 400 Liegenschaften ermitteln. Bei zwei Dritteln der gesamten Fälle handelt es sich um sichere, bei einem Drittel um unsichere Fälle. Die sicheren müssen systematisch kontrolliert werden, bei den unsicheren Fällen laufen Nachforschungen, ob systematische Kontrollen erforderlich sind. Rund 90 Prozent der ehemals radiumverarbeitenden Unternehmen der Schweizer Uhrenindustrie konnten ausfindig gemacht werden. Das BAG geht davon aus, dass der weitaus grösste Teil der kontaminierten Liegenschaften gefunden wurde. Vermutlich müssen rund 20%, also 180 Liegenschaften saniert werden. Bei 63 Gebäuden sind die Sanierungen bereits abgeschlossen.

 

Links:

Lukas Emmmenegger, Die Verwendung von Radiumleuchtfarben in der Schweizer Uhrenindustrie, Hg. in Zusammenarbeit mit Brigitte Sturer

Beat Marti, Medizinische Untersuchungen bei Heimarbeiterinnen, welche radiumhaltige Leuchtfarben verwenden, Zürich, 1965.